Scriver, Christian - Gottholds zufällige Andachten. - 95. Die Waisen.

Scriver, Christian - Gottholds zufällige Andachten. - 95. Die Waisen.

Es verstarb ein gottseliger Mann in der besten Blüthe seiner Jahre, viel kleiner unerzogner Kinderlein hinter sich verlassend. Gotthold gingen die häufigen Thränen der Wittwe und die betrübte Einfalt der Waisen (welche, weil sie, warum sie zu weinen Ursach hätten, noch nicht verstanden, um desto mehr zu beklagen waren) tief zu Herzen. Er seufzte und sagte mit thränenden Augen: du wunderlicher Gott! wie machst du es doch so gar nicht, daß es uns gut dünket! Was ist doch dieses betrübte Weib anders, als eine Rebe, die der Wind ihrer Stütze beraubt und an die Erde niedergelegt hat? Was wird ihre Haushaltung anders sein, als ein niedriger Zaun, darüber ein jeder steigen will? Was werden die Waislein sein, als Blümlein, die im wilden Walde wachsen, darüber alle Thiere mit Füßen laufen? Doch verzeihe mir, du getreuer Gott! daß ich.aus herzlichem Mitleiden mit diesen Trostlosen so kühnlich mit dir rede! Du mußt ja über deinen Namen halten, daß du der Waisen Vater und der Wittwen Richter oder Schutzherr seist. Ps. 68, 6. Wären keine Wittwen und Waisen, wie wolltest du diesen deinen Namen erhalten? Blieben sie denn alle in großer Verlassenschaft und aller Dinge Ueberfluß sitzen, so würde man ihrer Erhaltung halber dir wenig Dank wissen. Wenn aber sie in großer Dürftigkeit und von aller Menschen Hülfe entfernt nachbleiben, so zeigst du oft der Welt, daß auch du noch mit regierst und aus verlaßnen Waisen große Leute machen kannst. Macht sich doch ein Gärtner keine Gedanken darüber, wenn er einen alten Baum weghaut, auf daß die jungen, die er bisher mit seinem Schatten, gehindert, desto lustiger wachsen mögen. Also wäre oft der Eltern Leben der Kinder Verderben; wenn aber der Schatten weg ist, so haben sie nichts, als den freien offnen Himmel über sich, damit sie lernen allein dich fürchten, dir vertrauen und allen Segen, Schutz und Schirm von dir erwarten. Mein Gott! ich danke dir, daß ich auch von Anfang meines Lebens her ein Waise gewesen und du dich meiner so getreulich und väterlich angenommen hast! Du, Vater! hast das gethan, was mein irdischer Vater, wie lieb er mich auch gehabt, nimmermehr hätte thun können. Fahre fort, mein Gott! deinen Namen an mir und allen Waisen zu vertheidigen.

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