Schlatter, Adolf - Einleitung in die Bibel - Ein Wort an die Leser.

Schlatter, Adolf - Einleitung in die Bibel - Ein Wort an die Leser.

Der Calwer Verlagsverein besaß unter seinen zur Förderung des Schriftverständnisses herausgegebenen Handbüchern keine „Einleitung“ mehr und hat mich deshalb ersucht, ihm eine solche zu schreiben. Ich meinerseits war der Meinung, daß alles, was der Bibel zu Dienst und Ehren geschehen kann, und ob es auch nur ein Kleines sei, willig gethan werden soll. Nun ists freilich eine große und schwere Sache, richtig in die Bibel einzuleiten. Ich bitte diejenigen Leser, die wirklich die folgenden Blätter durchgehen wollen, für einige Augenblicke um ruhiges Gehör.

Im theologischen Lehrsystem versteht man unter „Einleitung in die Bibel“ diejenigen Untersuchungen, die sich auf die Entstehung der biblischen Bücher und auf ihre Sammlung zu einem geheiligten Ganzen beziehen. Der Eifer, mit dem diese Untersuchungen betrieben werden, ist sehr natürlich; denn es bildet stets einen besonderen Reiz und eine hohe Freude für unsere Erkenntnis, wenn wir entdecken, wie die Dinge geworden sind. Allein nicht das ist diejenige Erkenntnis, die jeder Christ, wer er sei, nötig hat.

Jedermann muß sich mit gewisser und klarer Erkenntnis auf die Frage Antwort geben: wozu ist die Bibel da? nicht: wie und wann ist sie entstanden sondern: wozu habe ich sie zu gebrauchen? was ist der Zweck Gottes, um deswillen sie in meinen Händen liegt? Wir müssen die Bibel nicht erst machen und entstehen lassen; sie ist uns gegeben als eine Gabe von oben, die in unsern Händen liegt. Uns allen liegt ob, sie zu benützen und zu gebrauchen, und wozu wir sie zu gebrauchen haben, das ists, was jedermann wissen muß. Haben wir erkannt, daß die Schrift uns dazu gegeben ist, „damit wir durch sie weise werden zur Seligkeit durch den Glauben an Jesum Christ“, so ist diese Einsicht unvergleichlich wichtiger und wertvoller, als wenn uns die Geschichte der Bibel mit allen ihren Rätseln durchsichtig und bekannt würde. Während jene Untersuchungen an wissenschaftliche Hilfsmittel und Gelehrsamkeit gebunden sind, ist diese Einsicht jedermann zugänglich. Nur das ist zu derselben unerläßlich, daß unser eigenes Auge offen sei, um wahrzunehmen, was die Bibel sagt, und dies mit dem zusammenzuhalten, was unseres Geistes Mangel und Hoffnung, unseres Herzens Fehler und Bedürfnis ausmacht. Dann erkennen wir den Zweck der Schrift, und sehen, daß sie als eine gnadenvolle Gabe Gottes in unsern Mangel hineinpaßt, und dem, was finster in uns ist, Erleuchtung bringt, und dem, was sterben will, Heilung, Stärkung allem, was wir Gutes haben, Überwindung allem, was wir Böses sind, Vollendung dem, was Gottes Schöpfung in uns ist, und wir erleben, daß es uns durch die Schrift unmöglich wird, Gott zu verleugnen, weil sie seinen Namen hell und gewiß in uns erweckt und uns in ihm unser Leben und unsere Freude zeigt. Und dadurch erweist sie sich als Gottes kräftiges und gnädiges Wort an uns. Wer auf diese Hauptfrage eine helle und gewisse Antwort hat, der weiß von der Bibel genug, um rechtschaffen mit ihr in Gottes Wegen zu wandeln.

Meine Absicht liegt folglich nicht in dem, was man etwa „Popularisierung der Wissenschaft“ nennt. Zwischen derjenigen Erkenntnis, durch die jemand ein Christ wird, und dem Unterricht, den der Lehrstand der Kirche bedarf, besteht ein bestimmter, deutlicher Unterschied. Das Buch sollte seinem Titel treu bleiben und wirklich in die Bibel hineinleiten. Das war mir die Hauptregel, nach welcher die Umgrenzung und Gestaltung des Stoffes vorgenommen ist.

Nun kommt freilich all dem, was wir von Einblick in die Geschichte der Bibel und in den Ursprung ihrer Bücher besitzen, hoher Wert und große Bedeutung zu. Die Schrift ist durch ein großes, überaus erstaunliches Walten und Wirken Gottes hervorgebracht worden. Warum sollten wir nicht, soweit als es jeder vermag, diesem Gotteswerk mit offenem Verstande zu: schauen? Dadurch wird uns auch der Inhalt der Bibel näher kommen und faßlicher werden. Der Einblick in die Art, wie die Dinge werden, zeigt uns auch, was sie sind und bedeuten. Aus der Geschichte der Bibel fällt auf manches Licht, was uns sonst an ihr dunkel und seltsam scheinen muß. Das schützt vor unrichtigen Auslegungen und Einbildungen, die uns von der Schrift abführen. Es ist wahrlich eine große Sache, das göttliche Wort zu verstehen. Die Kirche darf keine Arbeit gering schätzen, die sie hiebei unterstützt.

Eben deshalb sind die Untersuchungen über die Herkunft der biblischen Bücher nicht eine stille Gelehrtenarbeit geblieben, von der die übrigen Glieder des Volks nicht beeinflußt würden. Diese Fragen werden schon lange mit Geräusch verhandelt und haben allerlei Zweifel, Verwirrung und Erschütterung des Glaubens hervorgebracht. Das rührt zum Teil daher, daß leider manches an unserer gegenwärtigen Schriftforschung krank ist. Gedanken, die Gott und Christum leugnen, liegen auch uns Theologen nah. Wo sie Geltung gewinnen, üben sie auf die geschichtlichen Untersuchungen über den Inhalt und Ursprung der Bibel einen sehr wesentlichen Einfluß aus. Wie die Welt, so stellt sich auch die Bibel dem Auge anders dar, wenn der, der sie liest, Gott aus seinen Gedanken ausgelöscht oder doch in zweifelhafte Ferne geschoben hat, oder wenn er sie liest als einer, der Gottes in Christo gewiß geworden ist. Vieles in unserer gegenwärtigen „Wissenschaft“ entspringt dem thörichten Versuch, die Welt und die Bibel ohne Gott zu konstruieren. Das macht die Lage unserer Kirche und unseres Volkes ernst.

Jesus hat jedermann ernstlich genug vor Ärgerung der Kleinen gewarnt. Seine Warnung ließ sich bei diesem Gegenstand und bei einer Schrift, die nicht zu den Fachgenossen spricht, sondern in mancherlei Hände kommen soll, nicht übersehen. Sie hat mich vorsichtig gemacht, nicht nur gegen die Urteile der Kollegen, sondern auch gegen meine eigenen Eindrücke und Vermutungen. Die folgende Darstellung will keineswegs besagen, daß nicht in jeder Hinsicht die Schriftforschung weiter gehen könnte und dürfte und nicht öfter bestimmtere Ergebnisse sich verteidigen ließen. Die Linie, die ich ziehe, deutet lediglich den Ort an, wo mir die Sicherheit oder doch Wahrscheinlichkeit vorerst ein Ende zu haben scheint. Ebenso wichtig als solche Vorsicht ist aber in diesen Dingen offene, schlichte Wahrhaftigkeit. Wo ein blinder apologetischer Eifer dieselbe schmälert und bricht, wird der Anstoß nicht verhütet, sondern nur nach einer andern Seite hin verlegt, vielleicht in schlimmerer Gestalt.

Schließlich kann es doch niemand seltsam scheinen, daß die fleißige und ernste Beschäftigung mit der Schrift, wie sie nun schon lange unter uns im Gange ist, sich wirksam und fruchtbar erweist und neue Gedanken über die Bibel gibt. Alle unsere Meinungen und Urteile bedürfen immer wieder der Berichtigung. Auch unter den Schriftgelehrten, die das Alte Testament sammelten und ordneten, und unter den ersten Christen, welche die apostolischen Schriften zum Neuen Testament vereinigten, waren nicht lauter Meinungen verbreitet, die sich bewähren, schon wegen der Mangelhaftigkeit aller menschlichen Geschichtskunde. Unser Bild von dem, was vergangen ist, bleibt stets lückenhaft und unvollkommen, und Verwechslungen und Irrungen kommen unwillkürlich dabei vor. Zudem hat gerade der Eifer und die Verehrung für die Schrift auch unrichtige Überlieferungen erzeugt. Man wünschte überall in der Bibel einen bestimmten Namen und eine sichere Antwort und hätte gern alles deutlich gehabt. Und aus dem, was zuerst Vermutung war, wurde leicht eine scheinbar feste, gültige Tradition.

Gegen solche Berichtigungen der geltenden Meinungen haben gerade diejenigen nichts einzuwenden, die der Schrift gläubig untergeben sind. Wem es nicht um seine eigenen Meinungen, sondern wirklich und allein um die Bibel zu thun ist, der meistert sie nicht nach seinen eigenen Gedanken und Wünschen. Wenn ich sage: „so und so muß es sich mit der Bibel verhalten; anders will ich sie nicht; Gott kann und darf es nicht anders gemacht haben“, so stelle ich mich selbst mit meinen Ansprüchen und meinem Gutdünken über die Schrift, während mich aufrichtiger, echter Glaube unter sie stellt, so daß ich nichts begehre, als die Schrift selbst zu hören und zu verstehen. Im Glauben macht man sich nicht selber eine Bibel zurecht und begehrt sie nicht anders, als wie sie Gott uns gegeben hat. Wer Gott glaubt, der nimmt und braucht die Bibel gerade so, wie sie Gott hat werden lassen. Darum verhindert und erschwert der Glaube nicht die sorgfältige Untersuchung der Bibel und das umsichtige Urteil über sie. Er treibt und führt uns vielmehr in die wache Aufmerksamkeit. Wird jemand der Bibel gegenüber blind, so ist daran niemals sein Glaube schuld.

Wir Menschen richten uns aber von Gottes Bahn jeweilen zwei Abwege ein, den einen in die Höhe eines verwegenen, falsch geistlichen Übermuts, den andern in die Tiefe einer verzagten Trägheit. Die Ehre, die wir dem göttlichen Worte zu erweisen haben, besteht darin, daß wir uns zu ihm als die Lernenden und Empfangenden verhalten. Denn es ist uns zum Führer und zur Autorität gesetzt, der wir untergeben sind. Aber es leitet uns nicht in die Unmündigkeit und Knechtschaft, sondern fordert, ja vielmehr gibt uns das eigene Sehen, eigene Urteil, die freie Bewegung des zur Wahrheit geleiteten Versteheng. Durch dieses geschieht der Autorität der Schrift und unserm Gehorsam gegen sie nicht der mindeste Abbruch. Erheben wir uns zum eigenen freien Erkennen: jetzt erst können wir uns wahrhaft unter das Schriftwort beugen, ohne daß eine Trägheit und Schlaffheit daraus wird. Beugen wir uns unter dasselbe: nun können wir uns zu seiner Durchforschung und Beurteilung erheben ohne jene Dreistigkeit, welche die Verachtung Gottes in sich hat. Die Eintracht, der Friede, die innere Harmonie, die zwischen diesem doppelten Verhalten zur Schrift besteht, macht, daß es in der an Jesum glaubenden Gemeinde eine freie Wissenschaft von Gott und seinem Worte gibt.

Aber wir schwanken hin und her. Bald soll's lauter „Geist“ sein und des Worts bedürfen wir nicht mehr und schelten es einen toten Buchstaben und merken nicht, daß wir gerade so in die leeren Worte fallen und den toten Buchstaben anheim gegeben sind. Bald klammern wir uns wieder ans Wort, als stünde unser Heil und Leben allein im Buch, als wäre Gott nichts und Christus tot, wenn der Esel Bileams nicht geredet hat, und merken nicht, daß wir uns damit des Glaubens Grund und Ziel aus dem Auge rücken. Denn der Glaube hat seinen Grund und sein Ziel im gegenwärtigen ewigen Gott und in unserm auferstandenen himmlischen Herrn. Zu ihm werden wir berufen und geleitet durch den Dienst der Schrift, durch das Zeugnis der alten Boten Gottes, an die auch wir gewiesen sind, und der einstigen Werke Gottes, die auch uns tragen. Sie sind die dienenden Werkzeuge, durch welche Gott seinen Namen in uns erweckt und uns zum Glauben an ihn beruft. Wir haben es aber Gott zuzutrauen, daß die Wahrheit in diesen Dingen seinem gnädigen Willen und Werk wirksamer und kräftiger dienen wird als irgend ein Zusatz, mit dem menschliche Frömmigkeit die Bibel noch größer und heiliger zu machen meint. Gerade weil wir wissen, wem wir glauben, sind wir willig und fähig, unbefangen zu hören und zu erwägen, was immer über die Schrift mit Grund und Wahrheit gesagt werden kann. Ich weiß meinen Lesern nichts Besseres zu wünschen, als diejenige Ruhe des Geistes, die aus der Klarheit des Glaubens stammt.

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