Schlatter, Adolf - Einleitung in die Bibel - Der Epheser-, Kolosser- und Philemonbrief.

Schlatter, Adolf - Einleitung in die Bibel - Der Epheser-, Kolosser- und Philemonbrief.

Wenn wir uns nach den Korinther- und dem Galaterbriefe ein vorläufiges Bild entwerfen, wie Paulus an die Gemeinde von Ephesus geschrieben haben werde, so muß dasselbe von der Art des Epheserbriefs sehr verschieden sein. Jene Briefe sind in jedem Wort ein Gespräch mit ihren Empfängern, und entspringen aus der lebendigsten Teilnahme des Apostels an ihren Anliegen. Sie geben uns darum von jenen Gemeinden ein sehr bestimmtes Bild. Sie lassen uns ihren Erörterungen, Zweifeln und Einreden zuhören; wir lernen sie kennen in ihrem Glauben und ihrem Unglauben, ihren Sünden und ihrer geistlichen Kraft. Nun war Ephesus nicht minder als Korinth oder die Kirche Galatiens die eigene Gemeinde des Paulus. Ephesus war der Ort seiner mehrjährigen Arbeit, schwerer Leiden und großer Thaten gewesen. Er stand mit den dortigen Männern in vertrauter tiefer Gemeinschaft des Geistes. Wir werden darum erwarten, daß sich in seinem Briese eine Fülle persönlicher Beziehungen und Erlebnisse wiederspiegeln werde. Allein der Epheserbrief enthält hievon nichts. Die Gemeinde von Ephesus bleibt uns ganz unbekannt und ihre besonderen Anliegen und Verhältnisse werden nirgends auch nur andeutungsweise berührt. Der Epheserbrief ist kein Gespräch mit den Ephesern, sondern eine Ansprache, deren Gedankengang sich beständig auf einer so umfassenden Höhe hält, daß jedes Wort derselben ebenso gut an jede andere, von Paulus aus den Heiden gesammelte Gemeinde gerichtet sein könnte. Auch über die Lage und Erlebnisse des Paulus erfahren wir aus demselben nur das eine, daß er gefangen war1).

Letzteres ist weniger befremdlich, da Paulus die Leser für alle Mitteilungen über seine Erlebnisse an den Boten verweisen konnte, der ihnen den Brief überbrachte, 6,21. Dieser war Tychikus, der selbst aus Ephesus oder einer seiner Nachbarstädte stammte, Ap. 20,4. Die Gefangenschaft des Paulus erklärt auch zum Teil, daß der Brief sich nicht mit den Anliegen der Gemeinde befaßt. Paulus stand nicht mehr mitten in jener seelsorgerlichen Arbeit drin, der die ersten Briefe dienten. Seelsorgerliche Briefe setzen den genauesten Einblick voraus in das, was eben jetzt die Gemeinde erfüllte und bewegte; nun war er aber von derselben abgesperrt. Und doch zeigt der Philipperbrief, daß das Gefängnis des Apostels den Mangel jeder persönlichen Färbung nicht ganz erklärt.

War dieses Schreiben nicht oder nicht nur nach Ephesus gerichtet? Hat ihm der Apostel darum eine allgemeine Haltung gegeben, weil er wünschte, daß es zu vielen Gemeinden hingelange? Dann ließe sich etwa denken, daß ihm die Überschrift „an die Epheser“ darum vorgesetzt worden sei, weil es von dort aus in der Kirche zur Verbreitung kam. Oder ist der Brief nicht von des Apostels eigener Hand? Stellt hier einer seiner Schüler, ein Mann, der ihn gehört hat, zugleich mit Benützung des Kolosserbriefs die Lehre des Apostels nach ihren Kerngedanken in Briefform dar? Beide Gedanken haben manche Ausleger für sich gewonnen2). Doch dürfen wir nicht vergessen, daß wir die Bahn, die Paulus in seinem inwendigen Leben durchmessen hat, nicht nach unseren Vermutungen abstecken können. Er hat freilich sein Lehrwort völlig dem Augenblick dienstbar gemacht und es dem Bedürfnis, der Schwäche und dem Kampf derer angepaßt, die er unterwies. Deshalb dürfen wir jedoch nicht sagen: alle seine Äußerungen waren von dieser Art. Wer weiß, wie mächtig die nach innen und oben gekehrte Gedankenarbeit des Apostels sich entfaltete, wie hoch sie emporstieg zum allgemeinen Überblick, zu dem, was wir System heißen würden, zur Erfassung des göttlichen Werks und des menschlichen Handelns nach ihren wesentlichen Grundverhältnissen? Und wer will es ihm verwehren, mit einer Gemeinde, und stehe sie ihm noch so nah, auch einmal von dieser Höhe aus zu reden und ihr Grundbegriffe zu geben, welche ihr den Inhalt seines Evangeliums in einer geordneten Übersicht vorhalten? Einen ähnlichen Wechsel müssen wir uns auch in der Predigt des Apostels vorstellen. Dieselbe beschäftigte sich oft mit den individuellsten Anliegen und persönlichsten Interessen der Gemeinden und ihrer einzelnen Glieder, und daneben stand die Unterweisung im großen Stil, der Aufbau einer Erkenntnisreihe, die ins Ganze der göttlichen Weltregierung blickt. Dabei war sicherlich auch die Gefangenschaft des Apostels auf die Richtung seines inneren Lebens nicht einflußlos. Die Arbeit war ihm verwehrt, wenigstens beschränkt. Was that er im Gefängnis? Das, was er er im Epheserbrief thut: er versenkte sich ins Geheimnis Gottes; er dachte und betete.

1)
3,1.13, 4,1. 6,20.
2)
Die Bedenken gegen die Adresse des Briefes waren schon der ältesten Kirche nicht fremd. Daher fehlte in manchen alten Bibeln in der Überschrift, V. 1, die Ortsangabe: „in Ephesus“.
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