Parry, William Edward - Der Vatersinn Gottes - Viertes Kapitel.

Parry, William Edward - Der Vatersinn Gottes - Viertes Kapitel.

Seid begierig als die jetzt gebornen Kindlein nach der vernünftigen lauteren Milch, auf dass ihr durch dieselbe zunehmt.
1. Petri 2.2.
Zieht an den Harnisch Gottes.
Eph. 4.11.
Ringt danach, dass ihr durch die enge Pforte eingeht.
Luk. 13I.24.

Das Werk der menschlichen Erziehung ist nicht nur allmählig, sondern im Allgemeinen auch langsam. Vieles kann zwar geschehen, und ist auch bereits getan worden, um ihren Pfad ebener zu machen und manchen früher auf demselben liegenden Stein aus dem Weg zu räumen; allein, es bleibt dennoch sprichwörtlich wahr: „Zur Wissenschaft führt keine Heerstraße.“ Die volle Entwicklung der geistigen Fähigkeiten im Menschen geht gewöhnlich stufenweise zu, und ist das Ergebnis eines lange ausharrenden Studiums und angestrengten Fleißes. Zwar erblickt man hier und da Beispiele früh reifer Verstandeskräfte, die, wenigstens in irgend einem Zweige menschlicher Kunst oder Wissenschaft schon in zarter Jugend fast instinktartig und wie auf einmal beinahe den höchsten Gipfel menschlicher Vollkommenheit zu erschwingen scheinen; diese spotten gleichsam der ermüdenden Zwischenstufen, durch welche gewöhnliche Geister nur nach und nach und mühsam genug dasselbe Ziel erreichen, wenn sie es ja so weit bringen wie Jene. Doch dieses sind nur seltene Ausnahmen von der allgemeinen Regel; gleichsam Wundermenschen, die man anstaunt, aber nicht Vorbilder, denen nachzuahmen man weder hoffen noch selbst versuchen soll. In der Erziehung unserer Kinder zu einem nützlichen und achtungswerten Leben begnügen wir uns gewöhnlich, einen langsamen und fast unmerklich vorwärts schreitenden Stufengang zu befolgen.

Und so vollendet auch Gott in der Regel die Erziehung Seiner Menschen für die Ewigkeit weder plötzlich noch sogar schnell. Das wahre innere Leben des Christen, worunter wir den sich selbst bewussten Impuls verstehen, der die Seele antreibt Gott im Geist und in der Wahrheit als ihr höchstes Gut zu suchen ist gewöhnlich nicht das Ergebnis eines einzigen Tages. Im Gegenteil bezeugt sowohl Schrift als Erfahrung, dass es im Allgemeinen für die Religion ebenso gut ein A B C gibt als für irgend eine menschliche Wissenschaft.

Bezeichnend sind die zahlreichen auf eine bloß allmählige Entwickelung des christlichen Lebens deutenden Ausdrücke der Bibel und namentlich des Neuen Testamentes. So z. B.

„Und ich, liebe Brüder, konnte nicht mit euch reden, als mit geistlichen, sondern mit fleischlichen wie mit jungen Kindern in Christo. Milch habe ich euch zu trinken gegeben und nicht Speise, denn ihr konntet noch nicht; auch könnt ihr noch jetzt nicht.“ 1 Kor. 3.1-2.
„Als die jetzt gebornen Kindlein, seid begierig nach der vernünftigen lauteren Milch, auf dass ihr durch dieselbe zunehmt.“ 1 Petri 2.2.
„Und die ihr solltet längst Meister sein, bedürft ihr wiederum, dass man euch die ersten Buchstaben1) der göttlichen Worte lehre, und dass man euch Milch gebe, und nicht starke Speise. Denn wem man noch Milch geben muss, der ist unerfahren in dem Wort der Gerechtigkeit; denn er ist ein junges Kind. Starke Speise aber gehört den Vollkommenen, die durch Gewohnheit haben geübte Sinne, zum Unterschied des Guten und Bösen.“ Heb. 5.12-14.
„Wachst aber in der Gnade und Erkenntnis unsers Herrn und Heilandes Jesu Christi.“ 2 Petri 3.18.
„Bis dass wir Alle hinan kommen zu einerlei Glauben und Erkenntnis des Sohnes Gottes, und ein vollkommener Mann werden, der da sei in dem Maß des vollkommenen Alters Christi; auf dass wir nicht mehr Kinder sein.“ Eph. 4.13.14.
„Lasst uns aber wachsen in allen Stücken an dem, der das Haupt ist, Christus.“ Eph. 4.15.

Aufs Klarste wird hier ein regelmäßiger Stufengang religiöser Entwicklung, ein Wachstum des geistlichen Lebens im Menschen bezeichnet, und deutlich zu verstehen gegeben, wie im Beginn dieses Lebens die Seele mit eben so großer Sorgfalt getragen, gepflegt und genährt zu werden bedarf, als es der zarte Leib des neugebornen Kindleins von der Wiege an bis zum reifen Mannesalter zu seinem Gedeihen erfordert. Dies ist aber gerade was wir vernünftiger Weise und nach den Gesetzen der Analogie erwarten mussten. Denn so es schon da, wo es bloß um dieses Lebens beschränkte Fertigkeiten, um dessen armselige Vorzüge und verwelkliche Ehre zu tun ist - alles „Dinge, die sich unter den Händen verzehren“2) dennoch einer langsamen und stufenweise fortschreitenden Erziehung bedarf, wie vielmehr erst dann, wenn der zu erringende Preis nichts Geringeres ist, als einen unsterblichen Geist für Gottes Paradies zu erziehen!

Zwar gibt es wie auf bloß intellektuellem, so auch auf religiösem Gebiet bisweilen Beispiele sogenannter frühzeitiger Geistlichkeit - irgend ein mehr als gewöhnliches Wunder von Gottes bekehrender Gnade, da dasselbe ohne sichtbare Mittel und in einem so zarten Alter gewirkt wurde, dass dadurch jeder Gedanke an menschliche Dazwischenkunft wegfällt. Wir sagen absichtlich ein mehr als gewöhnliches Wunder, da jede wahre Bekehrung zu Gott eine erstaunenswerte Offenbarung Seiner Gewalt ist; eine eben so wundervolle Wirkung der Allmacht als jene schöpferische Kraft, die den Menschen zuerst ins Leben rief, und seiner Nase den Odem des Lebens einblies. Gott könnte zwar, gefiele es Ihm so, urplötzlich und mit oder ohne Dazwischenkunft irgend einer sichtbaren Vermittlung Seine Kinder für den Himmel bereiten. Durch die einfache Tatsache Seines unumschränkten Willens würde der Vornehmste aller Sünder - wäre er auch ein Lästerer und ein Verfolger, und gar unsinnig3) gleich dem Saulus, in dem vollen Mittag seines hochmütigen Aufruhres zu Boden gestürzt und für einige Zeit gezwungen werden in Finsternis zu schmachten, bis er durch Gebet4) und Nachdenken zum wunderbaren Licht Gottes hindurchgedrungen5), berufen würde, „das Gesicht wieder zu erlangen“ und erfüllt von dem heiligen Geist endlich Tausenden zu bezeugen, dass der Jesus, den er verfolgte, wahrhaftig sei „Christus, der Sohn des lebendigen Gottes“6). Doch nicht also das gewöhnliche Verfahren Gottes mit dem Menschen. Wie bei dem Walten Seiner Vorsehung, so gefällt es Ihm auch meistens bei demjenigen Seiner Gnade durch Mittel zu wirken. Über die Wahl und Zweckmäßigkeit derselben aber liegt nicht nur für unsern beschränkten Verstand oft ein unerklärliches Dunkel, sondern sie scheinen auch wirklich einer anhaltenden Dauer und günstiger Umstände zu bedürfen, um den Zweck Seiner ewigen Liebe zu erreichen.

Ohne uns mit unheiligem Vorwitz in die „Geheimnisse“7) Gottes hineinwagen oder weise sein zu wollen „über das hinaus das geschrieben ist,“ erlauben wir uns doch, wenigstens eine wichtige Absicht bei diesem allmähligen Entwicklungsgang unsers geistigen Lebens als klar und einleuchtend anzudeuten. Ist es nicht augenscheinlich, dass ohne denselben dieses Leben nicht wäre, was es doch offenbar sein soll, ein Stand der Versuchung8)? Wo bliebe alsdann die Gelegenheit zur Ausübung jener christlichen Tugenden, welche auf besondere und charakteristische Weise das Kind Gottes bezeichnen?

Wo Glaube, Geduld, Ergebung, Gehorsam, wo irgend eine andere „Frucht des Geists,“ die köstlich ist vor Gott, nicht zwar als die verdienstliche Ursache zur Seligkeit, wohl aber als der unzweideutige Beweis eines Herzens, das nicht länger im Zwiespalt ist mit Ihm, sondern versöhnt und nahe geworden durch das Blut“9) Seines gekreuzigten Sohnes?

Vergleichen wir ferner die Erziehung der Kinder Gottes für den Himmel mit derjenigen, die wir unsern eigenen Kindern auf Erden geben, so drängt sich uns hier mit besonderer Rücksicht auf den Zeitraum, welche letztere gewöhnlich erfordert, unwillkürlich folgender Gedanke auf. Sind diejenigen nicht im höchsten Grade unverständig zu nennen, welcher ob auch nicht mit dürren Worten, doch durch ihre ganze Handlungsweise es aussprechen, dass unter al' den hienieden das Interesse des Menschen in Anspruch nehmenden Aufgaben, die Rettung seiner unsterblichen Seele - wiewohl unleugbar die feierlichste und wichtigste von Allen, - immerhin die einzige sei, welche seiner geistigen Energie, seiner selbstverleugnenden Willensbeherrschung und seiner gewissenhaften Zeitanwendung bedürfe? Denn nicht nur handeln Viele folgerecht nach diesem Grundsatz; sie sind auch bereit diejenigen, welche hierin von ihnen abweichen, als Sonderlinge, wo nicht gar als Gegenstände des Spottes und der Verachtung zu bezeichnen. Die Welt tadelt den Menschen nicht, der jeden Nerv und jede Muskel anstrengt um ein tüchtiger Handelsmann oder ein geschickter Mechaniker zu werden; aber sie verlästert es als Unsinn, wenn Einer es sich eifrig angelegen sein lässt und auch einen guten Teil seiner Zeit daran verwendet, nach dem wahren Christentum ernstlich zu streben. Jeder andere Beruf wird allgemein als ein rechtmäßiger Gegenstand zur Anstrengung unserer besten und höchsten Fähigkeiten gehalten. Um uns in irgend einem derselben auszuzeichnen, wird es uns Niemand zum Vorwurf machen, wenn wir früh aufstehen und spät zu Bett gehen und essen das Sorgenbrot“10). Aber nach Auszeichnung streben im höchsten und edelsten Beruf unter Allen, um das reichste Erbe arbeiten, das sogar die Schätze des Himmels zu gewähren vermögen; nach der Ehre sich sehnen „Kinder des Allerhöchsten“ zu werden, „Erben Gottes und Christi Miterben“ - das wird nur zu oft als das dunkle Geschwätz dummer Heuchelei und wilden Fanatismus, oder als die Raserei einer ungeregelten Einbildungskraft gebrandmarkt. Gilt es irgend ein irdisches Gut zu erlangen, oder eine rühmliche Unternehmung zu vollführen, so wird sogar das gefürchtete Ding Enthusiasmus, das am Ende nur ein anderes Wort ist, um mehr als gewöhnlichen Eifer in mehr als gewöhnlicher Anstrengung zu bezeichnen - wo nicht geradezu als lobenswert gepriesen, doch stets als eine harmlose und sogar liebenswürdige Übertreibung freundlich geduldet. Doch man wende es einmal auf den einzigen Gegenstand an, für welchen kein Eifer möglicherweise je zu groß, mit dessen überwältigender Wichtigkeit keine, wenn auch noch so gewaltige Anstrengung je im Missverhältnis stehen kann, und augenblicklich bekommt das Wort eine andere Bedeutung; zur Scheltung wird, was es nun ausdrücken soll, und wer es dennoch wagt dieses auszuüben, auf den wird nicht selten mit den Fingern des Spottes gewiesen.

Gerade so verhält es sich mit der Erfahrung. In zeitlichen Angelegenheiten ist man so fern davon ihren Wert herabwürdigend zu bezweifeln, dass ihr vielmehr einhellig allgemeine Achtung und rücksichtsvolle Unterwerfung gezollt wird. Es gibt nicht einen einzigen Gegenstand irdischer Wünsche oder irdischen Ehrgeizes, für welchen, besitzen wir anders auch nur ein gewöhnliches Maß weltlicher Weisheit, wir nicht froh wären, aus unserer eigenen oder anderer Erfahrung der Vergangenheit Weisung und Warnung für die Zukunft zu schöpfen.

Allein sobald wir die Geltung des Wortes in Beziehung auf religiöse Erkenntnis vielleicht das Ergebnis ängstlicher Forschung, heiligen Nachdenkens und inniger Gemeinschaft mit Gott während eines langen Lebens in Anspruch nehmen, sobald wir sie als christliche Erfahrung bezeichnen, so wird oft genug die Sache als ein Schattenbild verhöhnt; oder wenn je etwas daran sein sollte, als wertlos verachtet. Arge Verkehrtheit der hoch gepriesenen Menschenvernunft! Ein für die ephemeren11) Interessen der Erde, „demjenigen was sichtbar ist und zeitlich allgemein gebilligter und zugestandener Grundsatz wird sofort verneint oder leichtsinnig verachtet, sobald von dem Himmel, von demjenigen, was unsichtbar und ewig ist, gesprochen wird!“12). Woher diese Inkonsequenz? Etwa daher, weil wir niedrige und unwürdige Vorstellungen von der Aufgabe hegen, die uns obliegt, oder von dem uns als Kindern Gottes vorgehaltenen Erbe? Sehen wir Erstere für so gering an, dass ihre Lösung eben keine besondere Anstrengung erfordert? Meinen wir, unser Heil sei so leicht zu erlangen, dass wir ohne alle Gefahr des Apostels Ermahnung vernachlässigen oder umstürzen und es daraufhin wagen dürfen, dasselbe“ ohne „Furcht und Zittern zu schaffen?“ Liegt das Ideal evangelischer Reinheit in der Waagschale moralischer Trefflichkeit so tief, dass es keines Kampfes, keines Widerstandes, keines heldenmütigen Aufschwunges bedarf, um dasselbe zu erreichen? Oder ist es nicht vielmehr absichtlich so himmelhoch über uns gesetzt worden, dass wir es auf Erden zwar nie völlig erreichen, dabei aber freundlich gelockt werden, beständig aufwärts zu blicken und ununterbrochen dem herrlichen Ziel zu nähern? Der geheiligteste Mensch den die Erde je trug, blieb dennoch weit hinter den Anforderungen des Evangeliums zurück. Das Verderben seiner sündlichen Natur klebte auch an seinen besten Werken. „Dieser Leib des Todes“13) hemmte sein erhabenstes Streben und trübte seine heiligsten Verrichtungen bis zur letzten Stunde seines sterblichen Daseins. Und hierin liegt offenbare Weisheit sowohl als Erbarmung verborgen. Denn vermöchte je ein Mensch diejenige Stufe heiliger Vollkommenheit zu erreichen, auf welcher er sich versucht fühlen dürfte, im Vertrauen selbstgefälliger Sicherheit zu sprechen: „Jetzt bin ich sicher - meine Seele, ruhe nun aus und sei du immerhin zufrieden;“ so würde augenblicklich der geistliche Stolz hier seine giftigen Wurzeln schlagen, und verkleidet in einen Engel des Lichtes hätte Satan den Sieg schon zur Hälfte davongetragen. Allein dieses kann nimmer die Sprache des von Gott gelehrten Himmelspilgrims sein. Je gediegener seine geistliche Erfahrung und je höher der Grad seines christlichen Lebens, je offener sind auch seine Augen für den erhabenen Umfang der vor ihm liegenden Aufgabe, zu deren Lösung es nichts weniger als der höchsten Anstrengung aller seiner ernstlich zusammengerafften Kräfte bedarf; und aus um so volleren Herzen wird er auch täglich in das demütige, sich selbst misstrauende Bekenntnis des Apostels einstimmen. „Nicht dass ichs schon ergriffen hätte, oder schon vollkommen sei.“ Meine Brüder, ich schätze mich selbst noch nicht, dass ich es ergriffen habe. Eins aber sage ich: Ich vergesse, was dahinten ist und strecke mich nach dem, das da vorne ist. Und jage nach dem vorgesteckten Ziel, nach dem Kleinod, welches verhält die himmlische Berufung Gottes in Christo Jesu.“ Phil. 3.13.14.

1)
das ABC
2)
Kol. 2.22
3)
1. Tim. 1.13
4)
Apg. 9.11 (Siehe, er betet).
5)
1. Pet. 2.9
6)
Apg. 9.17 und 20
7)
1. Mos. 29.29
8)
1. Mos. 8.1 Dich zu demütigen und zu versuchen
9)
Eph. 2.13.
10)
Ps. 127.2.
11)
nur kurze Zeit bestehend; flüchtig, rasch vorübergehend [und ohne bleibende Bedeutung]
12)
2. Kor. 4.18.
13)
Röm. 8.24.
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