Nagel, Gustav Friedrich - Gesetz oder Evangelium

Nagel, Gustav Friedrich - Gesetz oder Evangelium

Der Apostel Paulus hat Christum genannt „das Geheimnis“ (Eph. 3,4). Und die ganze Summe des durch ihn erschienenen Heils hat er genannt das „Geheimnis der Gottseligkeit“ (1. Tim. 3,16). Worin besteht denn nun eigentlich das Geheimnis Christi und seiner Nachfolge? Das Innerste, Wichtigste in der Christuspersönlichkeit war das Kreuz, das Leiden, das Sterbenmüssen. Dieses Wesentliche bleibt verborgen, bis der Christusgeist es uns erschließt. Das war die Klippe, an der das Christusverständniis der Jünger scheiterte. Das war das Christusärgernis selbst eines Johannes.

Wir können mit unseren natürlichen Sinnen das Gesetz verstehen, aber wir können das Evangelium nicht verstehen. Wir verstehen gut allerlei religiöse Vorschriften und Gesetze. Aber wir verstehen nicht das Evangelium in seinem Kern. Und weil wir das Evangelium in seinem innersten Wesensgehalt nicht verstehen, darum biegen wir es um. Wir machen es zum Gesetz. Dies ist die eine große Gefahr, die immer wieder im Hintergrunde lauert. Es ist diejenige Gefahr, die gleichsam zwangsläufig - wenn die geistliche Abwehr nicht einsetzt, immer wieder naht. Es ist erschütternd zu sehen, wie in zwangsläufig fortschreitender Entwicklung so aus der biblischen Urgemeinde die katholische Kirche wurde.

Aber die gesetzliche Handhabung des Christentums leuchtet den natürlichen Sinnen ohne weiteres ein. Dafür kann man mit einer natürlichen Religiosität und Sittlichkeit eintreten. Das kostet keine weiteren Opfer, keine Selbstverleugnung. Der eigentliche Kern der Gemeinschaft mit Christo ist aber gekennzeichnet mit der Forderung der Selbstverleugnung, der Annahme des Kreuzes, der Aufgabe des fleischlichen Seins. Das leuchtet aber den natürlichen Sinnen keineswegs ein. Es richtet sich darum, unsere Auffassung des Christentums immer wieder von diesem Kern weg in das mehr Äußerliche hinein. Immer wieder wenden wir uns von der Höhe des Geistlichen weg zu dem hin, was mit äußeren Sinnen greifbar und durchführbar ist. Man kann ja eine ganze Menge von Dingen tun, ohne das Evangelium verstanden zu haben. Man kann Kirchen gründen und Bekenntnisse und Verfassungen aufstellen, ohne ein persönliches Glaubensleben zu haben. Man kann kämpfen für das „Biblische“ und „Schriftgemäße“, ohne von dem guten Kampf des Glaubens etwas zu wissen. Man kann ein Prediger und Evangelist sein, kann Sonntagsschule halten und Traktate verteilen, kann in allen Ämtern und Diensten der Gemeinde aufs stärkste beschäftigt sein und dabei doch sein Innenleben vollständig vernachlässigen.

Alle diese Dinge stellen ja an und für sich noch gar keine inneren geistlichen Anforderungen an uns. Man kann das alles auch mit natürlichen Sinnen und Kräften treiben. Und weil das möglich ist, darum liegt es nahe, das es auch geschehe. Genau in dem Maße aber, als es geschieht, als man mit äußerlich-gesetzlichen Mitteln das alles treibt, verläßt man den Glaubensstandpunkt und kommt herunter auf den Gesetzesboden.

Wie nahe liegt die Gefahr, daß dieses Heruntersinken ins Gesetz unvermerkt geschehe. Wir brauchen dabei sobald eine öffentliche Rüge nicht zu fürchten. Wir brauchen nicht zu fürchten, wegen unseres Eifers getadelt zu werden. Die Sache liegt heute so, daß das Gesetzliche unter geistlichem Schein unter uns schon sehr weiten Raum hat. Es soll vielfach nur unter allen Umständen vorwärtsgehen, wobei man nicht soviel nach den Mitteln fragt. Darum wird oft der, der eifert um das Äußerliche, um das Wachstum von Kirchen, Gemeinschaften, Vereinen und Verbänden usw. nicht getadelt, sondern hoch gefeiert. Und es wird nicht so viel danach gefragt, ob seine Mittel dem Gesetz oder dem Evangelium entstammen.

Quelle: Gärtner - Eine Wochenschrift für Gemeinde und Haus 1926

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