Krummacher, Gottfried Daniel - Die Gefährlichkeit des Leugnens und die Notwendigkeit des Bekenntnisses der Sünde

Krummacher, Gottfried Daniel - Die Gefährlichkeit des Leugnens und die Notwendigkeit des Bekenntnisses der Sünde

(Predigt am Buß- und Bettage)

Ob es mit diesem allgemeinen Buß- und Bettage wohl ein Ernst sein mag? Er ist wohl kein außerordentlicher Bettag, der irgend eine besondere Veranlassung hätte, sondern ein solcher, der in der preußischen Monarchie jährlich auf den Mittwoch nach dem dritten Sonntag nach Ostern festgesetzt ist, er ist aber für diese ein allgemeiner. Der König von Ninive ließ nach Jona 3, auf die Predigt dieses Propheten einen allgemeinen Bußtag ausrufen, und derselbe war gewiß ernst. Ein Buß- und Bettag ist eigentlich ein Tag der Demütigung vor Gott, ein öffentliches Bekenntnis der Sünden und der damit verdienten gerechten Strafen, eine öffentliche Bitte um Erlassung der Schuld und Abwendung der verdienten Strafen, um Gnade und Vergebung. Hat man denn wohl die Ursache zu einem solchen Tage? Der König, die Prinzen, der Minister feiern diesen Tag mit den Untertanen, wenigstens müssen sich alle miteinander als solche ansehen lassen, welche dieses mit angeht, wie er auch tut. Denn warum gebeut der König aller Könige allen Menschen, an allen Enden Buße zu tun (Apg. 17,30)? Es ist also keiner von der Verpflichtung ausgenommen. Es ist hier kein Unterschied, sie sind allzumal Sünder, sie müssen also auch alle Buße tun. Aber sollte es mit diesem Bettage wohl wirklich ein Ernst sein? Es möchte es wohl. An Sünden, womit der große König Himmels und der Erde beleidigt worden ist, womit wir uns seines Zornes würdig gemacht haben, fehlt es wohl in der ganzen Monarchie nicht, ja, wir sollen wohl alle Ursache haben, mit Esra (9,3) zu sagen: „Unsre Missetat ist über unser Haupt gewachsen und unsere Schuld ist groß bis an den Himmel,“ und uns mit ihm zu schämen, und der König von Ninive soll wohl schwerlich der einzige sein, der Ursache hatte, von seinem Thron aufzustehen, seinen Purpur abzulegen, einen Sack um sich zu hüllen und sich in die Asche zu setzen. Man wird heutigen Tages auch schwerlich Ursache haben, sich weniger aus Gott zu machen, wie ehemals, sich weniger vor ihm zu scheuen, als da er die Welt im Wasser untergehen, oder Feuer über Sodom und Gomorrha regnen ließ. Er soll noch wohl eben so allwissend, eben so allmächtig, eben so schrecklich und heilig sein, wie er vormals gewesen ist, und ihm allerhand Gerichte eben so sehr zu Gebote stehen wie sonst. Die Menschen werden von ihm denken, und sich verhalten können, wie sie es für gut finden, er wird sich aber darum auf keine Weise ändern. Es möchte also mit dem Bettag wohl ein völliger, dürrer Ernst, es möchte uns allen in den Tod bedacht sein. Sollte es dies wohl sein? Daß es den Leuten mit Schauspielen und allerhand Lustbarkeiten ein Ernst sei, bezweifelt man nicht, aber so ein Bußtag kommt den meisten ohne Zweifel vor wie Schnee zur Erntezeit und wie eine Tracht, deren sich kein ungebetener Gast und als ein beschwerlicher Bettler abweisen lassen, wo er nicht gar noch dabei geneckt und verhöhnt wird. Aber er ist ein Bote von hoher Hand gesandt, und sein übler Empfang wird für uns unausbleiblich üble Folgen haben.

So wir sagen, wir haben keine Sünde, so verführen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns.

1. Joh. 1,8

In diesen Worten liegen zwei Stücke:

1. der Schaden vom Leugnen seiner Sünde, und

2. der Nutzen des Bekenntnisses derselben.

I.

Von dem ersten Stück, dem schädlichen Leugnen seiner Sünde sagt Johannes: So wir sagen, wir haben keine Sünde, so verführen wir uns selbst. Er schreibt nicht: Wenn wir wirklich keine Sünde haben, sondern, wenn wir dies sagen, vorgeben und meinen. Aber sollte es wirklich Menschen gegeben haben, oder auch nur geben können, die das sagen: Sie haben keine Sünde? Zwar soll es zu Johannis Zeiten und nachgehends Leute gegeben haben, die vorgaben, wenn sie auch Handlungen verübt, die im Worte Gottes verboten sind, so seien sie ihnen doch nicht Sünde wie anderen Menschen, und die unter diesem Vorwande hoher Geistlichkeit alle Laster verübt und dennoch sagten: „Sie hätten keine Sünde!“ Die Geschichte hievon ist zu mangelhaft, daß man es eigentlich angeben könnte. Hat es aber wirklich dergleichen Leute gegeben, so dient dies zu einem schrecklichen Beweise mehr von der Verirrung des menschlichen Verstandes und Herzens und von dem Betrug der Sünde, welche sich unter dem Schein hoher Erkenntnis und ungemeiner Erfahrung aufs schrecklichste betrügen kann. Wer will sich doch genugsam vor dieser Schlange, die listiger als alle Tiere auf dem Felde ist, hüten, um ihrer Bezauberung zu entrinnen? Keiner ist dazu geschickt als der denjenigen auf seiner Seite hat, welcher gekommen ist, die Werke des Teufels zu zerstören. Er kann sich auch in einen Engel des Lichts verstellen und Menschen bereden, sie seien vorzügliche Kinder Gottes, um sie desto sicherer gefangen zu führen in seinem Strick. Kann er es nur dahin bringen, Menschen von Christo abzuhalten, so hat er seinen Zweck erreicht, er mag dies nun durch Laster oder durch Scheintugend bewirken. man hüte sich deswegen! Übrigens sollte man denken, es gebe wohl keinen Menschen, der sagte: Wir haben keine Sünde. Fragte man nach der Reihe herum, so würde man schwerlich einen finden, der nicht gestände: Er könne nicht leugnen, Sünde zu haben. Selbst Heiden glaubten und glauben dies und haben allerhand Opfer und Büßungen für ihre Sünde. Das Gewissen des Menschen überzeugt ihn hievon allzu klar, als daß er demselben widersprechen dürfte. Selbst die Pharisäer zu Christi Zeiten, bei denen sich die eigene Gerechtigkeit besonders entwickelt hatte, werden sich doch nicht für ganz engelrein gehalten haben, und unsre Moralisten, welche so viel Wesens von der Vortrefflichkeit der menschlichen Natur machen und vorgeben, als könne der Mensch aus sich selbst der Vorschrift der Vernunft und des Moralgesetzes entsprechen, wagen es doch nicht, zu sagen: Sie hätten keine Sünde. Und so möchte man denken, Johannes streite mit einem Schatten, oder er nimmt es genauer, als man im allgemeinen glaubt. Die letztgedachten Menschen werden dies Bekenntnis, „sie hätten Sünde,“ nur äußerst selten, nur im Notfall und mit Widerwillen, und etwa nur so ablegen, wie wenn ein reicher Mann bekennte, er sei etwas schuldig, aber dies kümmert ihn nicht, und braucht ihn nicht zu kümmern, da er vermögend ist, so hat seine Schuld nichts zu bedeuten. Er würde es seltsam finden, wenn man darauf bestände: Er solle gestehen, daß er Schuld habe, da das sich von selbst versteht. So denken viele von ihren Sünden, und was ist das im Grunde anders als sagen: Man habe keine. Einer andern Klasse von Menschen ist das Bekenntnis: Sie seien Sünder, etwas geläufiger, weil sie mit den Grundsätzen jener Moral nicht bekannt sind, und sie machen hierin weniger Umstände, besonders wenn sie von Jugend auf durch den öffentlichen Religionsunterricht daran gewöhnt sind, sich für Sünder zu halten. Ist das nicht der Fall, so geraten die Menschen in große Verwunderung, wenn sie einmal hören: Wir seien so elende Sünder. Ihnen kommt es nicht so vor. Sünder, meinen sie, seien wir ja alle mit einander, wie wir alle Menschen sind, das sei etwas Unvermeidliches und könne so sonderlich nicht in Anschlag gebracht werden, wenn's nur nicht in grobe Exzesse ausbreche, die freilich jeder verhüten müsse und könne. Wolle jemand besonders andächtig sein, so möge er dies, von allen und jeden könne das nicht gefordert werden, da ihre Umstände es nicht begünstigen. Ehrlich, treu und redlich sei das Wahre, und die besonders Andächtigen doch mehrenteils verdächtig, wo nicht absichtliche Heuchler. Was ist doch dies anders, als sagen: Wir haben keine Sünde? Das nämliche äußert sich auch an solchen Orten, wo man sich zwar durch die Länge der Zeit daran gewöhnt hat, die Menschen als Sünder und elend dargestellt zu hören, und dies also nicht mehr befremdend findet. Wenn es aber näher auseinandergesetzt wird, was für Sünder, und wie erschrecklich elend wir seien, so daß wir ganz blind sind, so daß wir von den Dingen, welche des Geistes Gottes sind, nichts ahnen, so daß wir aus uns sogar nichts Gutes vermögen, sogar Feinde Gottes seien, daß all' unser vermeintliches Gute nichts gelte, ja nichts als Sünde sei, daß etwas ganz Neues von Gott in uns gelegt werden müsse, so ist den Menschen dies zu arg, so wollen sie das nicht gesagt wissen, dem können sie nicht zustimmen. Daß Sünde als Sünde dargestellt wird, das findet man in der Ordnung, daß aber auch das Gute, was man zu üben meint, und wodurch man Gott angenehm zu werden hofft, mit hinein und verworfen werde, daß das alles Gesetzes Werk und niemand nütze sei, daß ist unleidlich, dagegen sträubt man sich, und zwar auf eine Weise, die dem Widerspruch einen trefflichen Schein gibt. Bei solcher Weise sagt man z.B., wäre es ja einerlei, wie man lebt, und man könnte denken, die Gnade kann dich eben so wohl so, als anders ergreifen, ob du darum betest oder nicht, das läuft auf eins hinaus, weil dein übriges Beten ja nichts ist. Diese und andere Einwendungen macht man mit einem erbitterten, feindseligen und gehässigen Gemüte und beweiset sich eben darin, wes Geistes Kind man sei. Was heißt das aber am Ende anders, als sagen: Sünde haben wir nicht? Nicht, als wollte man dies gänzlich ableugnen, sondern man will und kann nicht einräumen, daß man in dem Sinne, in dem Maße Sünde habe, wie es die Schrift sagt, sondern nur insofern, als man es selber meint. Ich denke, es ist auch bemerkenswert, wenn Johannes sagt: So wir sagen usw. Er schrieb an Christen, und versteht unter dem „wir“ keine andere als Christen. Gibt er also damit nicht zu erkennen, daß wir dieser Versuchung alle sehr ausgesetzt sind, unser sündliches Verderben für weit geringer zu halten, als es schriftgemäß ist, und uns so selbst zu verführen? Und wissen nicht Christen aus Erfahrung, was dazu gehört, um sich einerseits für einen ganzen Sünder zu halten, gänzlich zu glauben, daß in unserem Fleisch nichts Gutes wohne, gänzlich zu glauben, daß wir das Geringste nicht aus uns selbst vermögen, andererseits aber sein Heil lediglich in Christus zu suchen, was dazu gehöre, wirklich nicht mehr selbst zu wirken, auf keinerlei Weise mit des Gesetzes Werk umzugehen und nur zu glauben, wirklich in Christo zu ruhen? Lehrt uns nicht eine tausendfache Erfahrung, daß dies aus uns selbst nicht entsteht? Haben also nicht wahre Christen sich zu hüten, daß sie nicht auf irgend eine Weise sagen: Wir haben nicht Sünde? Johannes meint mit dem „Sagen“ gewißlich nicht ein eigentliches Sagen mit Worten, sondern eine Gesinnung des Herzens. Wo diese ist, da zeigt sie sich in dem Verhalten. Daher haben wir noch so viele sichere und sorgenlose Menschen, die fast nicht sicherer und sorgenloser sein könnten, wenn sie wirklich keine Sünde hätten, so wenig bekümmern sie sich darum, ihrer los zu werden, so viele Leichtsinnige, denen jedes ernsthafte Nachdenken so verhaßt ist wie der Tod selbst, die nichts von dem nur von ferne hören mögen, was auf Gottseligkeit und ewiges Leben Bezug hat, so viele Selbstgerechte, welche mit sich selbst und ihrem Verhalten vollkommen zufrieden sind, so viele Starke, die des Arztes nicht bedürfen, so viele Gleichgültige, ja Feindselige gegen die Gnadenwirkungen des Heiligen Geistes, gegen das Opfer Christi, gegen wahre Christen und gegen die Gnade selbst, so viele Falschgläubige, denen nichts leichter ist, als sich damit zu beruhigen, daß Christus genug getan habe, so wenige, die zu Christo kommen und bei ihm bleiben; so wenig Demütige, denen der Herr Gnade gibt; so wenige, die sich selbst verleugnen und in sich selbst keine Weisheit weder finden noch suchen.

Das Sagen: „Wir haben keine Sünde,“ muß uns sehr nahe liegen. Es schmeichelt auch unserer Eigenliebe, von uns selbst zu halten und zu glauben, wir selbst vermöchten es auszurichten, wir besäßen Weisheit, Güte und Kraft und dürften unser Vertrauen auf uns selbst setzen. Dagegen ist es sehr demütigend und schmerzhaft für uns, das Gegenteil zu hören. Die Menschen meinen durchgängig mit der Erkenntnis unserer selbst und unsers Elends bald fertig zu sein, und es sei hinreichend, wenn davon dann und wann Erwähnung geschehe. Aber wie ganz anders ist die Meinung des Bekenntnisbuches unserer Kirche hierin! Es gibt's nicht nur als das erste Stück an, welches erforderlich sei, um zu dem einigen wahren Trost zu gelangen, zu erkennen, wie groß meine Sünde und Elend sei, sondern sagt auch in der Folge, daß wir nicht nur noch immerdar zu allem Bösen geneigt seien, sondern auch, daß Gott eben deswegen die zehn Gebote also scharf predigen lässet, obschon sie in diesem Leben niemand halten kann, damit wir unsere sündliche Art je länger je mehr erkennen und desto begieriger Vergebung der Sünden und Gerechtigkeit in Christo suchen. Ferner gibt er's als das erste Erfordernis zu einem gottgefälligen und erhörlichen Gebete an, daß wir unsere Not und Elend recht gründlich erkennen, uns vor dem Angesicht seiner Majestät zu demütigen, und diesen festen Grund haben, daß er unser Gebet unangesehn, daß wir unwürdig sind, doch um des Herrn Christi willen gewiß wolle erhören, sowie zum würdigen Genuß des heiligen Abendmahls, daß man sich selbst um seiner Sünden mißfalle. Er beschreibt unser Elend als so groß, daß wir von Natur geneigt sind, Gott und den Nächsten zu hassen, daß wir ganz und gar untüchtig sind zu einigem Guten und geneigt zu allem Bösen, daß wir unsere Schuld noch täglich größer machen, daß unsre besten Werke in diesem Leben alle unvollkommen und mit Sünden befleckt sind, als eine sündliche Art, mit der wir unser ganzes Leben lang zu streiten haben, und aus uns selbst so schwach seien, daß wir nicht einen Augenblick bestehen können! Darnach mögen wir beurteilen, inwiefern das Sagen: „Wir haben keine Sünde,“ bei uns aufgehört hat, denn jene Vorstellung ist ja ganz schriftmäßig. So heißt es Jer. 13: Ich bin barmherzig, spricht der Herr, und will nicht ewiglich zürnen, allein erkenne deine Missetat, damit du wider den Herrn, deinen Gott, gesündigt hast, wo also dies letztere als das einzige Erfordernis angegeben wird, um jenes zu erfahren. Liegt nicht das Nämliche in der Äußerung Jesu, wo er sagt: Er sei gekommen, die Sünder zur Buße zu rufen und nicht die Gerechten, die Starken bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken. War nicht sein Geschäft, Blinde sehend zu machen? Verfährt nicht Paulus in seinem Brief an die Römer ebenso, daß er z.B. K. 3,9 sagen kann: Wir haben droben bewiesen, daß beide Juden und Griechen alle unter der Sünde sind? Und hat nicht Christus selbst Joh. 16 dies als das erste Geschäft des Heiligen Geistes angegeben, daß er die Welt strafen werde um die Sünde? Ja, über diesem Tal war gleichsam der ganze Tempel des Christentums erbaut, und Jesus hat eben daher seinen Namen, daß e uns selig macht von unsern Sünden. Wie irren sich also diejenigen, welche mit dieser Erkenntnis so bald fertig geworden zu sein meinen, die doch von so großer Wichtigkeit ist! Selbst diejenigen irren sich, die das Ganze in die sogenannte erste Buße verweisen, als ob's da für einmal abgemacht sei, und wie vollkommen Recht haben diejenigen, die sich die rechte Sündenerkenntnis nicht zutrauen, sondern darin noch immer besser belehrt zu werden begehren, denn es ist des Menschen Herz ein trotzig und verzagt Ding, wer kann es ergründen?

Wir erkennen aber unsere Sünde recht, wenn wir nicht bei einzelnen bösen Handlungen stehen bleiben, wobei wir uns noch für viel besser halten können als andere, sondern wenn wir die Wurzel des Bösen in uns erkennen, wenn diese Erkenntnis uns mühselig und beladen macht, und mit Haß und Abscheu verbunden ist, insbesondere, wenn wir einsehen, daß nur Christus und er allein uns davon befreien und erlösen kann, daß außer ihm kein Mittel dazu vermögend ist, und uns selbst dazu der Wille und die Kraft mangelt, das Blut Jesu Christi aber uns rein macht von aller Sünde, denn es gehört auch mit zu dem Sagen: „Wir haben keine Sünde,“ wenn man seine Sünde für so unbedeutend hält, daß man glaubt, man könne sie selbst überwinden. Dies setzt schon eine große Blindheit voraus, denn, ist das wirklich der Fall, so ist entweder Jesus Christus nichts ins Fleisch gekommen, oder doch nicht gekommen, um uns, die Sünder, selig zu machen, oder sein Kommen in die Welt, sein Leiden, seine Arbeit, sein Tod und Blutvergießen sind unnötige Dinge. Christus nennt sich dann mit Unrecht den Weg, die Tür, den Anfang, sagt mit Unrecht: Ohne mich könnet ihr nichts tun; mit Unrecht wird von ihm behauptet, es sei in keinem andern Heil, und es ist verkehrt, wenn wir angewiesen werden, zu ihm zu kommen, und wenn unsere ganze Rettung an den Glauben an ihn geknüpft wird. Unmöglich kann er uns dann köstlich sein.

Und darin besteht auch der Hauptnachteil des Sagens: „Wir haben keine Sünde.“ Wir verführen uns dadurch selbst, und diese Meinung ist ein Beweis, daß es uns noch gänzlich an dem wahren Lichte mangelt, denn so bald dies in der Seele geschaffen wird, sieht sie, wie wüst und leer sie sei, und wie eine neue Schöpfung mit ihr vorgehen müsse. Bei der verkleinernden Meinung von unserer Sünde verführen wir uns selbst, um von unserer Beschaffenheit, von unserm Herzen, von unsern Bedürfnissen, von unsern Kräften und Werken ganz andere Vorstellungen zu haben, als sie der Wahrheit gemäß sind, wir verführen uns, um unser Vertrauen auf uns selbst zu setzen, uns für gut, für weise, für stark zu halten, und machen es uns dadurch selbst unmöglich, Christum als unsere Weisheit, Gerechtigkeit, Heiligung und Erlösung anzunehmen, wozu er uns doch von Gott gemacht ist, wozu aber auch erfordert wird, daß wir unsre eigene Weisheit, Gerechtigkeit und Stärke samt unserm eigenen Leben verlieren, kurz: Wir verführen uns selbst, um von Christo zurückzubleiben, von dem also, der die einzige Quelle des Lichts und des Lebens, der Weg, die Wahrheit und das Lebens selbst ist, bleiben also ohne Licht und Leben, graben löcherichte Brunnen, die kein Wasser geben. Kann ein größerer Schaden erdacht werden, als dieser ist? Ein natürlich Kranker mag auch ohne Arzt und Arznei wieder genesen, aber im Geistlichen ist das nicht zu erwarten, zumal da wir, genau genommen, nicht bloß Kranke sind, in welchen doch noch ein Keim der Genesung sein kann, der sich mit oder ohne Mittel wieder erhebt und die Krankheit verdrängt, sondern wir sind gar tot in Sünden, und niemand ist unser Leben als Christus. Was uns also von ihm zurückhält, mag es auch einen noch so guten Schein haben, mag es Weisheit, Tugend, Fleiß in guten Werken u. dgl. genannt werden, oder mag es in weltlichem und sinnlichem Vergnügen bestehen, oder mag es die Vorstellung von der Menge und Größe unserer Sünden, von unserer mangelhaften Reue und Traurigkeit darüber, oder sonst was sein, kurz, alles was uns von Jesu zurückhält, von ihm, der Quelle alles Heils, das kann nicht anders als höchst schädlich sein. Vom höchsten Nutzen und Vorteil aber ist alles dasjenige, was uns zu ihm hintreibt und hinweiset, es seien nun die Gnadenmittel, Predigten, Abendmahl, christlicher Umgang, oder Leiden und Trübsale, Nöte und Anfechtungen, oder unsere schreckliche Ohnmacht zu allem Guten, oder unsere Versuchungen und unser Unglaube selbst: Alles, was uns schreien lehrt: Herr Jesu, hilf! und müßten wir auch hinzusetzen: Wir verderben! ist von unnennbarem Nutzen. Möchte es auch bei uns, wie beim David ein Geschrei aus Not sein, und möchte uns auch nicht gleich auf den ersten Schrei geholfen werden, da es uns oft weniger nützlich wäre, wenn uns alsbald geholfen würde, als wenn wir noch eine Zeitlang in der Not bleiben, damit uns das Sagen: „Wir haben keine Sünde,“ desto gründlicher vergehe, und dieser Teufel ausgetrieben werde!

II.

Gewiß aber ist die Wahrheit in uns, wenn wir haben sagen lernen: „Wir haben Sünde,“ und sind dadurch so elend, daß wir uns auf keine Weise aus ihren Stricken erlösen können. Wir haben Sünde, so daß wir nicht glauben noch lieben können, er gebe es uns denn, so daß unser Heil allein bei dir steht, wenn wir jede Besserung für Unrecht halten, die nicht aus Jesu fließt. Aber dies Sagen, wer lehrt es uns? Nicht eigenes Nachdenken, nicht die Sprüche der Schrift, die davon handeln, wie deutlich sei sein mögen. Nein, nur der Heilige Geist, den Jesus auch zu dem Ende zu senden verheißen hat, die Welt von der Sünde zu überzeugen, und der überzeugt so davon, daß wir es sehen, fühlen und erfahren, vielleicht mehr als uns lieb ist, vielleicht auch so, daß wir mit Freuden zustimmen, weil er uns zugleich den Heiland verklärt, der die Sünder selig macht. Ist das also so bei euch, sehet, so ist die Wahrheit in euch.

Gewiß verführen wir uns selbst nicht, sondern fangen es recht an, wenn wir uns zu dem wenden, von welchem Moses und alle Propheten und Apostel einmütig bezeugen, daß in seinem Namen alle, die an ihn glauben, Vergebung der Sünden empfangen sollen (Apg. 10,43), wenn wir uns als Toren zu ihm als unserer Weisheit wenden, als Gottlose zu ihm als unserer Gerechtigkeit kommen, als Schwache zu ihm als unserer Stärke, als Kranke zu ihm, unserm Arzt, als Verirrte zu ihm, unserm Hirten, als Tote zu ihm, unserm Leben, unsre Zuflucht nehmen, so kann es uns nicht fehlen. Mögen andere ihr Heil bei sich selbst suchen, mögen sie sich selbst und andere damit aufhalten, was man alles selbst tun, selbst wirken, selbst ausrichten, selbst glauben müsse, welches alles doch nur auf der Wurzel wächst: „Wir haben nicht Sünde.“ Es ist doch lauter Betrug mit Hügeln und allen Bergen: Wahrlich, es hat Israel keine Hilfe, denn am Herrn unserm Gott. So kehret nun wieder, ihr abtrünnigen Kinder, so will ich euch heilen von eurem Ungehorsam! Siehe, wir kommen zu dir, denn du bist der Herr unser Gott. Es wird dennoch bei dem Worte der Gerechtigkeit bleiben: Mir sollen alle Knie sich beugen, und alle Zungen bekennen und schwören: Im Herrn habe ich Gerechtigkeit und Stärke. Allein zu dir, Herr Jesu Christ, mein' Hoffnung steht auf Erden, ich weiß, daß du mein Heiland bist. Kein Trost mag mir sonst werden.

Lasset es euch deshalb nicht verdrießen, wenn man eure Ohren so oft mit der Rede von unserm großen Elende beschwert. Es ist nur dahin gemeint, euch zu dem wahren Weg zu leiten, und man gibt sich nur darum Mühe, die eine Tür zu verschließen, um die andere rechte und wahre desto weiter zu öffnen. So wir sagen: Wir haben keine Sünde, so verführen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns, So wir aber unsre Sünde bekennen, so ist er treu und gerecht, daß er uns unsre Sünde vergibt und reinigt uns von aller Untugend. Amen.

Quelle: Krummacher, G. D. - Gesammelte Ähren

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