Krummacher, Gottfried Daniel - Der Gang Jesu an den Ölberg

Krummacher, Gottfried Daniel - Der Gang Jesu an den Ölberg

(Passionspredigt)

Das letzte Wunderwerk, welches Jesus persönlich und vor seinem Leiden verrichtete, war die Auferweckung Lazari. Die Geschichte will ich nicht erzählen, denn sie ist euch aus Joh. 11 bekannt, ich will nur eines Umstandes aus derselben erwähnen, und der ist dieser, daß wir zweimal Vers 33 und 38 von Jesu lesen: Er ergrimmte. Das erste Mal heißt es: Da Jesus Maria sah weinen und die Juden auch weinen, ergrimmte er im Geist und fing bald darauf auch selbst an zu weinen. Er ergrimmte also nicht über ihre Thränen, die sie über einen geliebten Toten vergossen, den er selbst lieb hatte. Er verlangte, zum Grabe geführt zu werden, und als er desselben ansichtig wurde, ergrimmte er abermals. Was ist das? möchte man fragen, wie reimt sich das Ergrimmen zu den obwaltenden Umständen? Und das Wort heißt wirklich ergrimmen und seinen Ingrimm in zorniger, ernster Gebärde ausdrücken. Aber es war ein heilbringender Ingrimm, vergleichbar dem Grimme Simsons, der auf Rache wider die Feinde seines Volks denkt und ihrer tausend erschlägt, vergleichbar dem Zorn des Schafhirten Davids, da ihm ein Löwe ein Schaf von seiner Herde wegriß, er aber im Eifer ihm nachlief, ihn schlug, sein Schaf errettete, und da nun das Untier über ihn sich hermachte, es bei der Mähne ergriff und tot schlug, vergleichbar der Wut einer Mutter, die ihr Kind in den Klauen des Wolfs erblickte und mit Daranwagung ihres eigenen Lebens das Tier ergriff, ihr Kind zu retten. Auf eine ähnliche Art ergrimmte hier der sanftmütige Jesus und rief gleichsam: Tod ich will dir ein Gift, Hölle ich will dir eine Pestilenz sein. Das menschliche Elend trat ihm hier sehr lebhaft unter die Augen. Alles sah er in Thränen, und unter ihnen Personen, die ihm sehr lieb waren. Und was setzte sie denn hier in Trauer? Der Tod eines geliebten Bruders. Und was war zuletzt die Ursache alles dieses Jammers? Der Teufel war es, der durch die Sünde auch den Tod und allen andern Jammer in die Welt gebracht. Und diese Thränen waren selbst nicht ohne Tadel. Warum so geweint? Daß Lazarus diese Erde mit dem Himmel und die Mühseligkeiten des Erdenlebens mit den ungetrübten Genüssen der Herrlichkeit vertauscht hatte? Welch' ein Beweis von Blindheit und irdischem Sinn , der sich auch an einer Maria zeigte! Warum so geweint, da Jesus sagt, er soll auferstehen, die Krankheit ist nicht zum Tode, sondern zur Ehre Gottes, daß der Sohn Gottes dadurch geehrt werde? Ist es nicht wieder Blindheit, ist es nicht Unglaube, ist es nicht Unbekanntschaft mit Jesu, und also die Thränen sehr tadelnswert, welche aus so getrübter Quelle fließen? Doch Jesus sieht sie, sieht den ganzen Jammer nicht mit den Augen eines heiligen Richters an, er erblickt darin nicht die Schuld, sondern das Elend und sieht's an mit den Augen des Mitleids, der Erbarmung, die sein Innerstes erschüttert, aufregt und zur kräftigen Hülfe aufruft. Er will nicht nur diesmal helfen, sondern dem ganzen Baum des Verderbens die Axt an die Wurzel legen, er will als der gute Hirt dem Wolf entgegentreten, um seinen Schafen ewiges Leben, Gnade, Licht, Heiligung, Glauben und Trost zu erwerben, daher dauert es gar nicht lange mehr, so hub er sein, diesem Zwecke geweihtes Leiden an, wovon wir jetzt reden wollen.

Luk. 22,39.40

Und er ging hinaus nach seiner Gewohnheit an den Ölberg. Es folgten ihm aber seine Jünger nach an denselbigen Ort. Und als er dahin kam, sprach er zu ihnen: Betet, auf daß ihr nicht in Anfechtung fallet.

So beginnt Lukas die Leidensgeschichte. Laßt uns den Gang Jesu an den Ölberg und sein erstes Wort an seine Jünger betrachten!

Jesus war dem Gesetz Mosis gemäß nach Jerusalem gegangen, um daselbst das Osterfest zu feiern und die damit verbundene heilige Mahlzeit zu halten, sich aber zugleich als das wahrhaftige Osterlamm zu offenbaren, das durch sein Blutvergießen erlöset. Die Auferweckung Lazari gab gleichsam das Signal, seine Widersacher bis zum höchsten Gipfel des Grimmes zu steigern. Er selbst wußte es sehr wohl, was ihm nach Gottes Rat begegnen würde, und er ging, diesen Rat zu erfüllen, seinem Gott gehorsam zu sein bis zum Tode, ja bis zum Tode am Kreuz, und sagte es seinen Jüngern, welche es teils nicht begriffen, teils wiederrieten. In der, dem Namen nach heiligen, der That nach aber unheiligen und scheußlichen Stadt angekommen, sandte er zwei seiner Jünger vor sicher her, das Sakrament des Osterlamms zu bereiten, indem er sie anwies, dem Manne nur zu folgen, welcher mit einem Krug Wasser in der Hand ihnen begegnen würde, der Hausherr werde ihnen einen völlig bereiteten Saal anweisen, da sollten sie anrichten. Nach der Mahlzeit stiftete er das heilige Abendmahl als eins der neutestamentlichen Sakramente. So mochte es etwa zehn Uhr Nachts geworden sein. Es war eine vom Vollmond beleuchtete kalte Nacht. Jesus stand auf und seine elf Jünger, denn der Verräter hatte sich schon entfernt, mit ihm. Jerusalems Thore standen zur Festzeit auch des Nachts offen, und so verließ Jesus die mit Mordanschlägen wider ihn erfüllte Stadt. Schreckliches Verlassen! Vierzig Jahre später kommt der Verschmähte wieder, und kein Stein bleibt auf dem andern. Er ging über den Bach Kidron, über welchen auch eist sein Vater David barfuß und weinend gegangen war, fliehend vor seinem Sohne Absalom zur wohl verdienten Züchtigung für seine Missethat, wodurch er die Feinde Gottes hatte lästern gemacht. Auf diesem aber lag die Züchtigung unseres Friedens, um welcher willen er verwundet werden sollte. Jetzt ging er den Ölberg hinan, die Jünger meinten wohl nach Bethanien, um in dem teuern Kreise der drei Geschwister die Nacht und den andern morgen, den Freitag, zuzubringen, oder auch heiligen Betrachtungen obzuliegen, zu welchem Zweck Jesus diesen Berg oft besuchte, wenn er in Jerusalem war. Merkwürdiger Berg! Großes und Erstaunliches geschah daselbst, was die auserwählte Schar ewig besingen, ewig genießen wird.

Hierher ging Jesus. Merkwürdiger, einziger Gang, dessen Beschaffenheit und Segen ein würdiger Gegenstand unserer gläubigen und andächtigen Betrachtung ist! Er ging wohl wissen, was ihm da begegnen würde. Es erwartete ihn da ein unsichtbarer aber erschrecklicher Feind, furchtbarer als all' die Feinde, die sich jetzt in der Stadt wider ihn rüsteten. Die Taufe erwartete ihn da, von welcher er gesagt hatte: Ich muß mich taufen lassen mit einer Taufe, und wie ist mir so bange bis sie vollendet werde! Etwas Unsichtbares aber ungemein Kräftiges, etwas unaussprechlich Angreifendes überfiel ihn da, und zwar urplötzlich, wie ein unvorhergesehener Blitz und Knall. Es griff ihn an mit einer unaussprechlichen und unerträglichen Traurigkeit und Angst. O sehe sich ein jeder vor, daß er nicht alsdann von derselben befallen werde, wenn der ernste gebieterische Tod ihn aus der Welt in die Ewigkeit schleudert. Es griff ihn so an, daß er weinte, zitterte, schrie, schwitzte und mit dem Tode rang. Ach, was war's denn, das ihn so ängstete? Hört's aus dem 40. Psalm: Es haben mich umgeben leiden ohne Zahl, es haben mich meine Sünden ergriffen, daß ich nicht sehen kann. Seht ihr nun, was für ein Übel die Sünde ist, wie sie mit ihrem , Furcht und Grauen, Angst und Zagen erregenden tödlichem Geschoß den Sicheren ereilen kann, ehe er sich's versieht, und wollt ihr euch nicht allen Ernstes nach dem Schloß, nach der Freistatt, nach dem Schilde umsehen, der euch dafür unerreichbar macht? Jesus wußte, was ihn hier erwartete, ließ sich aber in den Zweikampf ein, sein Volk zu erretten aus dem bodenlosen Meer der Angst und sie zu versetzen in das Land des Friedens. Ewiger Dank sei ihm dafür!

Er ging willig und gern obwohl mit sehr beschwertem Herzen. Er hätte wohl mögen Freude haben, aber er wurde traurig um unsretwillen, damit wir durch seine Traurigkeit Freude hätten und reichlich getröstet würden. Nichts nötigte ihn dazu wider seinen Willen, vielmehr sagte er: Deinen Willen mein Gott thue ich gern, und dein Gesetz habe ich in meinem Herzen. Nur der brennende Eifer, den Namen Gottes zu heiligen, nur der Eifer ein Opfer zu bringen, das ewiglich gilt, nur der Eifer, durch seinen Tod und Gott zu versöhnen, nur der Eifer, sein Volk selig zu machen von ihren Sünden, trieb, nötigte, drängte ihn. Nichts hielt ihn zurück. Sollte ich den Kelch nicht trinken? Solches wird thun der Eifer des Herrn Zebaoth.

Er ging als Bürge. Und das war ein so bedeutender Gang, daß Gott gleichsam voll Verwunderung sagt: Jer. 30,21. Wer ist der, so mit willigem Herzen zu mir nahet? eigentlich: Der mit seinem Herzen Bürge wird; und wovon Salomo weislich sagt: Werde nicht leicht Bürge. Ein Bürge bezahlt freiwillig eine fremde Schuld, welche er als die seine übernommen hat. Hört hierüber Jes. 53! Der Herr warf unser aller Schuld auf ihn. Und da sie von ihm gefordert wurde, ward er unterdrückt. Hört ihn selbst: Ich gebe mein Leben zum Lösegeld für viele; und abermals in den Psalmen: Ich muß bezahlen, was ich nicht geraubet habe. Welche Schuld, welche Bürgschaft! Betrachtet ein einziger Mann, wie David, seine persönlichen Sünden als zahlreicher wie sein Haupthaar, erklärt er es für unthunlich, zu berechnen, wie oft er fehle, was für einen Begriff werden wir uns dann von der Schuldenlast der ganzen Menge der Auserwählten machen müssen, deren Zahlung er übernahm! So redet auch die Schrift. Mag auch der natürliche Mensch von seiner Sünde reden wie Lot von Zoar, „ist sie doch klein“; die Schrift, und sie kann nicht gebrochen werden, die Schrift vergleicht die Sünde einem Nebel, und wer vermag dessen Stäublein, dem Sand am Meere, und wer kann dessen Körnlein in Zahlen fassen! Es sei also, aber seht den Bürgen aus Salems Thoren eilen! Zeuch einher du Held, dir wird's gelingen. Du bist reich genug, nicht nur zu zahlen, sondern du giebst mehr, als gefordert werden kann. Du giebst dich selbst. Und was bist Du nicht wert! Du giebst dein Blut, und wie kostbar ist das! Es gelte auch mir, es gelte auch mir, wie es das heilige Abendmahl auf den einzelnen deutet: Für euch gegeben!

Er ging als das Lamm Gottes, geduldig wie das Lamm, da sich nicht zur Wehre setzet, ein göttliches Lamm. Ein Lamm, aber schwer beladen, denn es trägt hinweg die Sünden der Welt, zu vergleichen jenem sakramentlichen Widder, der unter dem Alten Testament die Sünde Israels in die Wüste trug. Siehe, das ist Gottes Lamm! ruft Johannes und lange vor ihm Jesaias: Er trägt ihre Sünde, er hat vieler Sünden getragen. Und was bezeichnet dieses Tragen? Heißt es nicht so viel als „entgelten,“ wie aus dem Ausdruck erhellt: „Der Sohn soll nicht tragen, nicht entgelten die Missethat des Vaters.“ Wohl mußte es dies Lamm entgelten. Mir hast du Arbeit gemacht mit deinen Sünden und Mühe mit deinen Übertretungen, aber ich tilge deine Missethat um meinetwillen und gedenke deiner Sünden nicht. Der Gerechte leidet für die Ungerechten, er stirbt für uns Gottlose. Bedarfst denn auch du dieses Lammes? Vom Bedürfen kann die Rede nicht sein. Aber fühlst du dein Bedürfnis und sehnst du dich danach, sein Fleisch zu essen und sein Blut zu trinken, ohne welches du kein Leben hast?

Er ging als der wahrhaftige Hohepriester. Israel hatte bisher seine Hohepriester gehabt, aber es waren die rechten nicht, sondern nur Schatten. Sie brachten ihre Opfer, sie gingen mit Blut ins Allerheiligste, sie versöhnten des Volkes Sünde, aber alles nur als Schatten ohne Wirklichkeit, als Abbildung bevorstehender Wirklichkeit. Nun war das Wirkliche und Eigentliche da, der große und wahrhaftige Hohepriester, längst schon geweiht und übergossen mit dem wahrhaftigen Salböl des Heiligen Geistes. Jetzt schickte er sich an zu dem wichtigen versöhnenden Gange zu Gott, dem Richter über alle, schickte sich an, das ewig geltende, blutende Opfer zu bringen. Er war beides zugleich, Priester und Opfer, denn er opferte sich selbst Gott zum süßen Geruch. Mußte der Priester im Vorbilde den ersten und sauersten Teil seines großen Amtes in der Gestalt eines Büßenden, barfuß, ohne Zierde verrichten, so erscheint auch der wahrhaftige Hohepriester ohne Schmuck und Schöne als der Allverachteste und Unwerteste, als ein Mann der Schmerzen in tiefster Erniedrigung, als ein Sünder, als ein Bösewicht, als ein Beleidiger göttlicher und menschlicher Majestät, je als ein von seinem Gott Verlassener und Verfluchter, ein Anblick, vor welchem sich billig das glänzende Auge des Himmels verschloß und die ganze Natur in Finsternis hüllte. Er erscheint, um die Missethat zu versöhnen und die Sünde zuzusiegeln und die ewige Gerechtigkeit anzubringen und so alles dasjenige in der Wirklichkeit dazustellen, was der alte Bund in Bildern und Hieroglyphen abbildete.

Er ging als das große heilige Opfer, worauf schon von Anbeginn gezielt und gedeutet war. Und welch ein Opfer! Heilig, unschuldig, von den Sündern abgesondert, aber auch zugleich höher denn der Himmel ist. Eine heilige Menschheit, getragen von der ihr innewohnenden, auf's genaueste und ewig mit ihr vereinten Gottheit, geopfert in der Glut der Liebe, zerschlagen und mürbe durch unzählige, hoch gehende Leiden beides Leibes und der Seelen, so durch leiden des Todes vollendet zu einer Ursache der Seligkeit allen, die ihm gehorsam sind.

Er ging, um den Mittelpunkt des göttlichen Ratschlusses auszuführen und sein ganzes Inwendiges sprach: Dein Wille geschehe! „in des Willen wir sind geheiligt einmal geschehen durch das Opfer des Leibes Jesu.“ Darum heißt er das Lamm, das geschlachtet ist von Anfang der Welt. (Offb. 13)

Er ging hinaus an den Ölberg. Segensreicher Gang für alle bußfertige und gläubige Sünder, aber ein schauerlicher Gang für ihn selbst, dessen Natur unter der Last zu erliegen drohte, sodaß sein gejagtes Herz ihm trotz der Kälte der Nacht die Stirn mit Schweiß netzte, ja das Blut aus den Adern herauspreßte, das tropfenweis zur Erde rann. Erschrickst du nicht, frecher Sünder, und willst du nicht eilend zur Buße dich anschicken, ehe du ohne Rettung in diesem Meere versinkt? Bedenke, was zu deinem Frieden dienet, ehe es zu spät ist!

Seine Jünger gingen mit. Sie sollten von ferne Zeugen der Wunder sein, die sich da mit Jesu selbst zutrugen. Nicht nur Zeugen sondern auch einigermaßen Mitgenossen der Leiden sollten sie sein, besonders die drei, welche Zeugen seiner Herrlichkeit gewesen waren. Sie sollten jetzt auch die verfinsterte Sonne sehen, die sie in ihrer vollen Pracht erblickt hatten. Wer mit Christo herrschen will, muß auch mit ihm leiden. Vor der Freude im Herrn geht die Trauer her, wie auf die Freude der Welt ewiges Herzeleid folgt. Lieber mit Jesu und seinen Jüngern in Gethsemane, als ohne ihn in den glänzenden Gemächern der Weltlust, deren Leckerbissen, doch ohnehin nicht ohne beigemischte Sandkörner sind, wie Salomo recht sagt, und endlich nichts als Leid gebären, oft hienieden schon und dort unausbleiblich! Lieber mit Jesu und seinen Jüngern geweint, als mit den Kindern dieser Welt gelacht! Lieber um seiner Seelen Heil gezittert und gezagt, als mit jenen gejauchzt und gefrohlockt! Ist das auch euer Sinn? Wohlan denn, verlasset das gottlose Salem und steigt mit Jesu den Ölberg hinan, wo er leidet, von wo er aber auch gen Himmel fährt! Wollt ihr? Er wird helfen.

Laßt uns jetzt auch Jesu erstes Wort an seine Jünger betrachten! Betet, sprach er zu ihnen, daß ihr nicht in Anfechtung fallt, oder: Betet, nicht in Versuchung zu geraten! In dem einen weiset er ihnen die Gefahr, in dem andern ein Bewahrungs-, ein Schutzmittel. Aber schlimmer Umstand, die Jünger waren noch gar ungeschickte Beter, die bis jetzt noch nichts im Namen Christi zu beten verstanden hatten, da doch jetzt ein großes und hohes Gebet Not that! Was wird das geben! Auch für sie ist jetzt ein böses Stündlein des Kampfes mit dem Satan, und wie wenig sind sie gerüstet, mochte Jesus auch gesagt haben: Kauft vor allen Dingen ein Schwert, ihr werdet es brauchen.

Die Gefahr ist in den Worten angedeutet: „In Versuchung geraten“ und billig fragen wir, was das heiße. Christus braucht es Vers 28 von sich, wenn er zu den Aposteln sagt: Ihr habt bei mir in meinen Anfechtungen oder Versuchungen beharret. Paulus sagt zu den Galatern: Ihr habt meine Anfechtungen, die ich leide nach dem Fleisch, nicht verachtet. Petrus spricht: Ihr seid eine kleine Zeit traurig in mancherlei Anfechtungen, auf daß euer Glaube rechtschaffen und viel kostbarer befunden werde als das vergängliche Gold, das durchs Feuer bewähret wird. Jakobus aber scheint im Widerspruch mit dem Herrn zu stehen, wenn er sagt: Freuet euch oder gar achtet es für lauter Freude, wenn ihr in mancherlei Anfechtungen fallet und selig ist der Mann, der die Anfechtung erduldet, denn nachdem er bewähret ist, wird er die Krone des Lebens empfangen. Und Christus selbst sagt: Wer um seinetwegen etwas Köstliches verleugne, werde es hundertfältig wieder bekommen mit Verfolgungen. Hier aber sagt er: Betet, daß ihr nicht in Anfechtung fallet, und lehrt uns überhaupt beten, führe uns nicht in Versuchung!

Wir stellen diese verschiedenen Sprüche zusammen, weil daraus erhellet, daß das Kapitel von den Versuchungen oder Anfechtungen nicht leicht sei, nicht einmal in der Theorie, geschweige in der Praxis und im Verhalten. Nach den angeführten Sprüchen hätte Jesus eben so gut sagen können: Freuet euch, denn ihr werdet in Anfechtung fallen, als er sagte: Betet, daß ihr nicht in Anfechtung geratet! Seien Weisheit zog aber das letztere vor, wiewohl das andere auch wahr wurde.

Bei den Versuchungen ist es die Hauptsache, wo sie ihren Grund haben, wonach sich denn auch die Auswirkung richtet. Es ist etwas Erschreckliches, wenn die Versuchung oder Anfechtung aus dem Zorn und der Ungnade Gottes entspringt, denn da zieht sie zeitliches und ewiges Unheil nach sich, und der Mensch geht dann zu Grunde nach Leib und Seele, wie Judas davon ein schreckliches Exempel ist. Eine solche Anfechtung im Zorn ist es, wie es 2 Thessalonicher 2 heißt, wenn Gott den Menschen kräftige Irrtümer sendet, zu glauben der Lüge, weil sie die Liebe der Wahrheit nicht angenommen haben, daß sie selig würden; wenn er, wie es Römer 1 heißt, die Menschen dahin giebt in ihres Herzens Gelüste und ihren verkehrten Sinn, zu thun, was nicht taugt. An solches dachte jener Prophet als er zu dem Könige Amazia sagte: Ich merke, daß Gott sich beraten hat, dich zu verderben, weil du meinem Rate nicht gehorchest. (2. Chron. 25) Dieses erschrecklichste aller Unglücke erbittet sogar der heilig eifernde Psalmist über die Gottlosen, wenn er fürchterlicher Weise sagt: „Geuß deine Ungnade über sie und laß sie von einer Sünde in die andere fallen“, denn das ist die unausbleibliche Folge davon. Von solchen Versuchungen mag wohl gesagt und empfohlen werden: Betet, betet, was ihr beten könnte, daß ihr nicht hinein geratet! Der Mensch reizt Gott durch seine eigene Schuld und Bosheit, solch erschreckliches Unheil über ihn zu verhängen. Dann geht's nach dem Spruch: „weil ich dann rufe und ihr weigert euch, ich recke meine Hand aus, und niemand achtet darauf, so will ich auch euer Lachen in eurem Unglück.“ So kann der einzelne Mensch, so können aber auch ganze Völkerschaften, so wie einzelne Familien, Gott durch ihre Sünde reizen und necken bis das Maß der Sünde voll ist, wo dann der Zorn unaufhaltsam hereinbricht, und Gott so der Väter Missethat an den Kindern zusamt ihren eigenen heimsucht bis ins dritte und vierte Glied. Wohl mit Recht sagt aber Mose Psalm 90: „Wer glaubt es, daß du so sehr zürnest, und wer fürchtet sich vor solchem deinen Grimm?“ Ruhig sündigen die Menschen fort, und es geht ihnen wie den Amoritern, von denen der Herr zu Abraham sagte, „ihre Sünden sind noch nicht alle,“ noch nicht vollzählig; wie wird's aber gehen, wenn sie vollzählig sind. Darum sehe sich ein jeder wohl vor! Man kann sich wohl in eine Versuchung hineinlassen, gerät aber damit auf einen bezauberten Boden, wo man seine Besinnung je länger je mehr verliert. Eine Versuchung verkettet sich auch dermaßen mit der andern, und eine entspringt so aus der andern, daß, wer erst einen Fuß in dies Labyrinth gesetzt, schon die Macht über den zweiten Schritt verscherzt hat und nicht mehr wissen kann, in was für Greuel er noch geraten wird. Und die Versuchung ist so listig, daß sie sich in etwas mengen kann, was, wo nicht unbezweifelt erlaubt, doch auch geradezu nicht untersagt, nicht verboten ist, in dieser Larve die Unvorsichtigen beschleicht und je länger je fester umgarnt. Aber vor solcher Versuchung waren doch die Jünger gesichert? Immerhin. Dennoch sagt Paulus: Sei nicht stolz, sondern fürchte dich, wer meint zu stehen, der sehe zu, daß er nicht falle, denn euer Widersacher, der Teufel, geht umher wie ein brüllender Löwe und suchet, welchen er verschlinge! Über die Jünger erging jetzt auch eine höchst bedenkliche Versuchung, denn sie stießen und ärgerten sich an Jesu und wurden irre an ihm und seinem Schicksale, so daß es ihnen sehr ungewiß wurde, ob er der Erlöser Israels sei.

Es giebt aber auch Anfechtungen, es giebt Versuchungen, die in der Liebe Gottes, die über jemand waltet, ihre Wurzel haben, von seiner Weisheit und väterlichen Güte über ihn verhängt und von derselben gemäßigt, geleitet und zu einem erwünschten Ausgang geführt werden, darum aber doch nicht aufhören, etwas Demütigendes und Schmerzhaftes und an sich selbst gefährlich zu sein. So wurde das Volk Israel in der Wüste versucht, auf daß es gedemütigt und alles kund würde, was in ihrem Herzen sei. Der Herr versuchte es, um ihm hernach wohl zu thun, es hätte sonst in seinem Herzen sagen mögen: Meine Kräfte und meiner Hände Stärke haben mir dieses Vermögen erworben. Wie Hiob versucht wurde, wißt ihr, Assaph desgleichen; und von dem frommen Könige Hiskia lesen wir, der Herr habe ihn verlassen, daß er ihn versuchte, auf daß kund würde, was in seinem Herzen sei.

Die Versuchung und Anfechtung trifft bald das Christentum im Ganzen, bald die einzelnen Bestandteile desselben insbesondere. Hiob und Assaph wurden im ganzen versucht, die Gottseligkeit fahren zu lassen, weil ihnen nur Unheil daraus erwachse, da es Gottlosen so wohl gehe. Und obschon ersterer diese Zumutung mit Ernst von sich wies, so gesteht doch letzterer: Beinahe wären seine Füße ausgeglitten. Wie verdächtig weiß der Satan überhaupt die Gottseligkeit in Christo Jesu zu machen, als ob's nur ein Hirngespinst, Ziererei und Schwärmerei sei, und wenn er so singt, wie gern tanzt man ihm, während Jesus klagen muß, wir haben euch gepfiffen, und ihr wolltet nicht tanzen. Die Wahrheit, in welcher Knechtsgestalt muß sie einher gehen, diese Königin, der jeder huldigen sollte, welches aber keiner ohne Schmach um so weniger thun kann, je aufrichtiger und gänzlicher er ihr huldigt. Welche erschreckliche Versuchung erging über das jüdische Volk wegen der Knechtsgestalt Jesu! und wer wird in der allgemeinen Versuchung bestehen, die über den ganzen Kreis des Erdbodens ergehen wird und allem Ansehen nach schon angebrochen ist!

Ist der Christ manchmal Anfechtungen wegen seines Gnadenstandes ausgesetzt, der ihm oft gewaltig bestritten werden kann, so gilt dies auch nach der Reihe von allen Bestandteilen des Christentums. Sollen wir eins und anderes nennen? Welche Versuchungen können nicht den Schild des Glaubens treffen, so daß die feurigen Pfeile des Bösewichts so auf ihn los stürmen, daß er durchbohrt werden zu müssen scheint. Man darf sich nicht wundern, wenn die Jünger schrien: Wir verderben, wenn David ächzet: Ich bin vom Angesicht des Herrn verstoßen, und Zion jammert: Der Herr hat mich verlassen. Welch' ein Aufbieten aller Macht zeigt es an, wenn Hiob 13,15 sagt: „Und ob er mich töten wollte, will ich doch auf ihn hoffen,“ und wie anstrengend jenes Ringen des kananäischen Weibleins alle ihre Kraft in Anspruch nahm, wurde sie selbst am besten fühlen. Nicht umsonst redet Paulus von einem Kampf des Glaubens, nicht umsonst sagt er: Werfet euer Vertrauen nicht weg, seid männlich und seid stark! Die Geduld ist freilich Not, aber wie kann sie nicht auch unter ihrer Last seufzen und wohl mit Paulo zu sagen geneigt sein: Über die Maßen und über die Macht werden wir beschweret!

Aber wer vermöchte alle Arten von Versuchungen anzugeben, zumal da alles uns zur Versuchung werden kann! Sind sie verschieden in ihren Arten, sie sind's auch in ihren Staffeln, in ihrer Dauer, in ihrer Zahl, so wie in ihrem Ursprung, da sie vom Teufel, der Welt und insbesondere von unserm eigenen Herzen herrühren. Kurz wir gleichen dem Petrus, da er auf dem Meere wandelte und bei jedem Tritt, den er that, in den Abgrund zu versinken Gefahr lief, und nur insofern gesichert war, als die unsichtbare Macht des Herrn ihn hielt, und er seinerseits sich im Glauben an diese Kraft anschloß, wobei jene freilich das Beste thun mußte.

Was haben wir aber gegen dieses gefahrvolle Heer der Anfechtung, was haben wir für Waffen? In uns selbst gar keine. Was wir, insofern wir für uns allein dastehen, mit unserm festen Vorsatz, dem Bösen zu widerstehn und im Guten zu beharren, koste es, was es wolle, was wir mit dem Vertrauen zu unserer eigenen Aufrichtigkeit, Klugheit, Mut und Kraft ausrichten, das sehen wir sehr deutlich an Petrus, welcher fiel, ehe er sich's versah. Jesus stellt seine Jünger auch als wehrlos dar, obschon sie sich nicht dafür hielten und meinten, was sie nicht ausrichten könnten, was sie aber teuer genug bezahlen mußten. Wir stehen nicht sicherer. Sind wir gegen diese Art von Versuchung gewappnet, so sind wir andern so viel mehr blos gestellt. Darum sagt Jesus: Betet! Er weiset sie dadurch an, ihren Halt und Stützpunkt, ihre Kraft und Stärke, so wie ihre Gerechtigkeit außer sich zu suchen, und gibt ihnen durch die Aufforderung zum Gebet zu erkennen, daß dies alles, was zum Leben und göttlichen Wandel dient, wirklich vorhanden, und daß das Gebet das Mittel sei, sich dasselbe anzueignen. Mögen dann die Anfechtungen von einer Art, mögen sie so stark, und wir dagegen so schwach sein, daß wir kaum imstande sind, uns eine deutliche Vorstellung davon zu machen, so ist doch wohl durchzukommen, so ist doch die Möglichkeit, das Feld zu behalten und alles wohl auszurichten. Sind wir nur der göttlichen Natur teilhaftig worden, haben wir nur den Geist, den wider das Fleisch gelüstet, und ist ein Sinn in uns, der sich allem Sündlichen widersetzt; mit einem Wort: Wollen wir von der Sünde frei werden, wir können es, aber nicht durch uns selbst, sondern durchs Gebet. Und obschon wir auch dieses nicht verstehen und nicht wissen, wie wir beten sollen, so wird uns doch dasselbe dargereicht, ja wir zu dem rechten Gebet desto geschickter werden, je deutlicher wir unsre Ungeschicktheit zu diesem wichtigen und heilbringenden Geschäft einsehen.

Lasse sich das denn ein jeglicher gesagt sein! Die Versuchungen sind da. Rüstet euch zum Streite, daß ihr nicht überwunden werdet, sondern überwindet! Rüstet euch in rechter Art, daß ihr nicht meint, ihr wäret es, ohne es doch wirklich zu sein!

Das heilige Abendmahl, welches jetzt gehalten werden soll, weiset uns auch ganz zu Christo hin. Es wird euch gleich in der Agende vorgelesen werden, „daß wir nicht zu diesem Abendmahl gehen, zu bezeugen, daß wir gerecht und vollkommen sind in uns selbst, sondern daß wir mitten im Tode liegen und unser Leben außer uns in Christo suchen.“ Und so verhält es sich auch. Je gewisser euch das ist, je ärmer ihr euch fühlet, je ausgeleerter ihr vom Vertrauen auf euch selbst seid, je einziger euer Verlangen, Hoffen und Sehnen auf Christum gerichtet ist, desto geschickter seid ihr zu dieser geheimnisvollen Handlung. Wie dies das einzige Brod und der einzige Trank in diesem Tempel ist, so ist Christus die einzige Speise, die einzige Rüstung und das einzige Leben der Seele in der ganzen Welt. Esset ihn! Vereinigt euch ganz mit ihm, und er vereinige sich mit euch, so werdet ihr recht streiten, so werdet ihr das Feld behalten und endlich triumphieren! Wer aber überwindet, dem will ich zu essen geben von dem verborgenen Manna und will ihm geben ein gutes Zeugnis und einen neuen Namen, den niemand kennt, als der ihm empfähet. Wer Ohren hat zu hören, der höre, was der Geist den Gemeinen sagt! Amen.

Quelle: Krummacher, G. D. - Gesammelte Ähren

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