Krummacher, Friedrich Wilhelm - Der leidende Christus - XII. Herr, bin ich's?

Krummacher, Friedrich Wilhelm - Der leidende Christus - XII. Herr, bin ich's?

Die Geheimnisse Gottes unterscheiden sich von denen aller menschlichen Weisheit auch darin, daß diese nur dem im kühnen Aufschwünge sich selbst vertrauenden Geiste, jene dagegen allein dem an aller eignen Tüchtigkeit verzagenden das Verständniß ihrer Tiefen in Aussicht stellen. „Es ist mir lieb,“ spricht David Psalm 119, 71 aus schmerzlich seliger Erfahrung heraus, „daß du mich gedemüthiget hast, daß ich deine Rechte lerne!“ - In dem lebendigen Innewerden, daß wir in uns selbst weder etwas wissen, noch sind, noch können, liegt nicht allein der Schlüssel zu allen Schätzen der göttlichen Wahrheit, sondern bahnt sich uns zugleich der Weg zu aller erreichbaren Herrlichkeit des Seins und des Vermögens. Wer faßt die Liebe Gottes, bevor er seines eignen Elends überführt, wer ermißt die Wunder der Erlösung, ehe er sich seiner Rettungsbedürftigkeit bewußt geworden ist? Wer nicht sich selber starb, steht auch nicht in Christo auf; und in das himmlische Wesen stehet sich Niemand versetzt, er erlebte denn zuvor eine Niederfahrt in die untersten Oerter der geistlichen Armuth. - Hiervon ein Weiteres miteinander zu reden, beut unser heutiges Evangelium uns Anlaß.

Matthäus 26, 21-23.
Und da sie aßen, sprach er: Wahrlich, ich sage euch, Einer unter euch wird mich verrathen. Und sie wurden sehr betrübt, und huben an, ein Jeglicher unter ihnen, und sagten zu ihm: Herr, bin ichs? Er antwortete und sprach: Der die Hand mit mir in die Schüssel tauchet, der wird mich verrathen.

Die verlesenen Worte versehen uns noch einmal in das Abendmahlsgemach, und zwar in die Zeit zurück, die unmittelbar der Stiftung des Sakraments vorherging. Wir halten somit Nachlese auf diesem an Betrachtungsstoff so reichen Gebiete, und richten für heute unsre Blicke vorzugsweise auf die wie in elfstimmigem Chore an den Herrn ergehende Jung er frage. In dieser Frage erscheinen uns die Elfe als ängstlich Forschende. Beachten wir die Veranlassung, den Gegenstand, das Gebiet, das Hülfsmittel und endlich den Erfolg ihres Suchens.

Helfe der Herr, daß wir bei der Scene, die heute an uns vorüberzieht, mehr als müßige Zuschauer seien! Versetze er uns in eine ähnliche Bewegung, wie die Jünger, und führe er uns mit ihnen zu einem gleichen Ziele!

1.

Unverkennbar treffen wir die Jünger in unserm evangelischen Bilde auf einer geistigen Jagd begriffen. Ihre Gemüther sind in lebhafter Aufregung; ihre Gedanken strecken sich aus zum Erspähen und Erhaschen. Was versetzte sie in diese unruhvolle Bewegung? Es thats ein andeutendes Wort des hohen Mannes in ihrer Mitte. Dieser bezeichnete ihnen den Gegenstand, den sie suchen, und der ihnen bei ihrer Frage: „Herr, bin ich's?“ vor Augen schwebt. Seine Versicherung, daß ein Mensch existire, wie der, um dessen Entdeckung es ihnen eben geht, reichte für sie hin, um sie das Dasein eines solchen nicht mehr bezweifeln zu lassen. Und in der That sollte auch für uns ein Wort aus dieses Mannes Munde, was immer es beträfe, allem Hader ein Ende machen. Denn wer ist's, der in Ihm die Lippen öffnet? Ein Mann, dessen Erscheinung in der Welt Jahrtausende vorher auf das bestimmteste signalisirt ward; den Engelchöre und himmlische Gefolge aus dem Jenseits auf die Erde herabgeleiteten; dem die Stimme der hochwürdigen Majestät in der Höhe selbst das donnerlaute Zeugniß gab: „Dieser ist es, und Ihn sollt ihr hören“, und welcher seinen überirdischen Heimathsschein nicht in wörtlichen Bezeugungen nur, sondern zugleich im Glänze einer sonnenlichten Heiligkeit und in schöpferischen Allmachtsthaten vor uns entfaltete. Ein Mann, der zur Beurkundung seiner Dignität Verwesende aus den Todtenglüften in's Leben zurückrief, Stürme und Meereswogen gebieterisch in seine Zügel bannte, über Tod, Teufel und Hölle einherschritt wie ein Sieger über die Nacken seiner Erschlagenen, in Menschlicheren las wie in einem offnen Buch, und die entlegenste Zukunft wie eine licht besonnte Landschaft vor sich ausgebreitet sah. Ein Mann, dem auf Schritt und Tritt der Name „König aller Könige“ vom Saum seines Gewandes blitzte, der, nachdem er seine große Mission erfüllt, die Erde wie einen leichten Kahn unter sich wegstieß, und, umrungen von dem Zujauchzen himmlischer Heere, sichtbar in die ewige Gottesstadt sich hinüberschwang, dann unter den Sterblichen ein Lob sich bereitete von feurigen Zungen, und als Denkmal seines Namens den Tempel seiner Kirche, diese „Behausung Gottes im Geist“ hinter sich zurückließ. Ein solcher Mann, mit tausend Gottesbriefen beglaubigt, lebete dort, und redet heute noch in der Welt; und selbst die Teufel glauben seinen Worten, und zittern. Und ihr, Unglückselige unter uns, Nachtwandelnde auf dem breiten Wege, säumt und zaudert noch, euch zum Glauben zu bequemen? Hörtet nicht auch ihr unzählige Male Ihn reden vom Ernste der Ewigkeit und von der Nothwendigleit der Hausbestellung? Ich meine, gleich Sturmglockenklang hätte euch antönen müssen, was er davon vor euch bezeugte! - Vernahmt ihr nicht seine Aussagen von Gottes Feuereifer wider die Missethäter, dem entscheidenden Gerichte nach dem Tode, der Seligkeit der erprobt Befundenen, und von der ewigen Verdammniß der Unbußfertigen? Wenn nun ein Mann, wie Er, betheuert, es lodere dort eine Hölle für die Uebertreter, sollten nicht die Steine zerspringen unter dem Eindruck seines Wortes? und ihr vermögt die erschütternden Aussprüche dieses Untrüglichen dahinzunehmen, als erschöllen sie von den Lippen eines Albernen und Träumers, und könnt darunter schlafen, wie unter einem Windeshauche, der nur spielend durch die Aeste eines Baumes rauscht? O, wisset doch: von jenen Schrecknissen der Ewigkeit redet zu euch nicht ein Schwätzer, sondern der Mann, dem selbst die Hölle die Anerkennung zu zollen gezwungen war: „wir wissen, daß du bist Christus, der Sohn Gottes!“ - O, kommt ihr nur einmal an jenem Tage, und wollt zu eurer Entschuldigung sprechen: „Ihm, wir vermutheten nicht, daß es so ernstlich hergehn werde; wir haben nicht geahnet, daß ein solcher Richtelstuhl uns erwarte; nicht war uns bewußt, daß in der That des Sünders ein Feuer harre, das nicht erlösche, ein Wurm, der nimmer sterbe:“ fürwahr, ein lautes Hohngelächter der Abgrundsrotten wird euch auf eurer Selbstvertheidigungsrede zur Antwort dienen, und heißen wird es zu euch: „Wie, alle jene Dinge blieben euch verborgen, zu denen die Wahrheit selbst von den Dächern her geredet, die ihr vor dem Lehrstuhl des Meisters aller Meister gesessen habt, und denen der Sternenhimmel einer vier Jahrtausende hindurch nicht verstummenden Gottesoffenbarung über den Häuptern strahlte? Was hätte mehr doch zu eurer Warnung und Zurechtweisung geschehen können, als wirklich geschehen ist? Ihr aber wolltet das Leben nicht, sondern den Tod. Wohl her denn, und ererbet ihn!“ -

2.

Die Jünger in unsrer Scene verfuhren klüger. Sie dachten: „Der Meister sprach's“, und hatten daran genug, um an der Wahrheit des Vernommenen nicht einen Augenblick mehr zu zweifeln. Was hatte ihnen aber der Herr eröffnet? Ein herzerschütterndes Geheimniß. Er sagte ihnen, es befinde sich wo ein unglückseliger Mensch, der weder Theil noch Anfall am Reiche Gottes haben und nimmermehr das Leben sehen werde. Das Blut des Lammes werde ihn nicht waschen, die Gerechtigkeit des Mittlers ihn nicht decken; vielmehr werde er bleiben, was er sei: ein Kind des Teufels, welchem es besser wäre, er wäre nie geboren worden. Es werde dieser Verworfene den einigen Grund alles Heiles von sich stoßen und den Herrn der Herrlichkeit verrathen, und darum unrettbar, ein Fluch- und Todeskind, der ewigen Verdammniß entgegeneilen. Dies offenbarte ihnen Jesus. Und was sagen sie dazu? Sprechen sie: „Rede hin, rede hei; so schlimm wirds ja nicht sein?!“ - Denken sie, wie Manche unter euch gedacht haben würden: „Tod? - Ewige Verdammniß? - O, es gibt wohl Menschen nicht, die dergleichen besorgen müßten, da Gott die Liebe ist?!“ - Nein, so denken sie nicht; sondern der Gedanke, der in ihrem Innern durchschlägt und die Oberhand behält, ist der: „Es sprach's der Mann, der mit Einem Blicke Himmel, Erde, Gegenwart und Zukunft durchschaut, und in dessen Munde nie ein Betrug gefunden worden ist;“ und darum versetzt diese Aeußerung ihre Seelen in solche Angst und Schrecken.

Aehnliches, Brüder, wie dort den Jüngern, hat Er auch uns eröffnet. Auch wir vernehmen mindestens das aus seinem Munde, daß zu allen Zeiten zwar Viele berufen, aber aus der Gesammtheit der Völker und Geschlechter der Erde nur Wenige auserwählt sind, und den Weg zum Leben finden, wogegen Viele, denen es darum gleichfalls besser wäre, sie wären nie geboren worden, die Straße der Verdammniß wandeln und unaufhaltsam der Hölle entgegenreifen. An Bejammernswürdigen dieser Art wird also auch in gegenwärtigem Augenblick kein Mangel sein. Er sprach's ja, der nicht lügt.- Wohlan denn, nicht wieder den Kopf geschüttelt, Freunde; nicht leichtfertig- an dem Worte vorbeigehuscht; sondern zu ernstlicher Kundschaftung euch angeschickt: „Wo sind jene zur Schlachtbank Gezeichneten, und wie heißen die Namen dieser Todeskinder?“ -

3.

Die Ruhe unsrer Jünger ist hin, seitdem sie durch die Eröffnung ihres Meisters wissen, daß Einer vorhanden sei, der ewig verloren gehe. Sie müssen dahinter kommen, wer der sei. Sie können die Sache nicht auf sich beruhen lassen. So geben sie sich denn an's Nachfragen und an's Spähen. Auf welchem Gebiete aber suchen sie den Mann des Todes? Sie verrennen sich nicht in's Weite, wie vermuthlich ihr gethan haben würdet, die ihr, um den verlorenen Sohn zu spüren, etwa die Kerker und Richtsätze durchmustert, an die Oerter, wo die Spötter und Lästerer sitzen, angeklopft, oder gar die Räuberhöhlen und Mördergruben zu euerm Jagdrevier ersehen hättet. Die Jünger bleiben in der nächsten Nähe, und suchen den Signalisirten zu Jerusalem, in dem Saale, der sie vereint, an der Tafel, um welche sie sich reihen, also in ihrem eignen Kreise. Und ihr wißt, sie gingen nicht irre auf diesem Wege.

Freunde, es ist noch kein untrüglich Zeichen, daß man nicht selbst das Kind des Todes sei, wenn einen die Leute für ein Kind Gottes halten, und unser äußerlicher Anstrich solch Urtheil zu rechtfertigen scheint. Menschen, die dem Verderben entgegentaumeln, gibt's auch unter den Ehrbaren und Unbescholtenen, unter den Kirchlichen und Gottesdienstlichen, ja, unter den Abendmahlsgängern, Betern, Psalmenfängern selbst. In Gemeinen, wo das Evangelium im Schwange geht, wie bei uns, sähet Satan wohl eben so viele Beuten in den Schlingen eines religiösen Selbstbetrugs, als er deren an andern Orten in den Fallgruben des Unglaubens und der Gottlosigkeit unter seine Botmäßigkeit bringt. ist euch doch bewußt, daß unter denen, an welche einst das Schreckenswort ergehen wird: „Ich habe euch nie erkannt“, nicht Wenige sich finden werden, die mit gutem Grunde werden sagen dürfen: „Herr, haben wir nicht vor dir gegessen und getrunken, und in deinem Namen geweissagt, Wunder gethan und Teufel ausgetrieben?“ - Auch den Elfen war dies nicht verborgen; und darum vermögen sie sich über die Anzeige des Herrn, daß ein Vermaledeiter unter ihnen sei, durchaus nicht damit zu beruhigen, daß sie sich in der nächsten Umgebung Jesu finden. Selbst in dieser geheiligten Tafelrunde machen sie Jagd auf jenen Menschen. Es könnte ja in ihr ein Heuchler verborgen stecken, oder Einer, in welchem nur der alte Mensch sich bekehrte, ohne daß ein neuer in's Leben trat; oder ein Verblendeter, dem über seinen wahren Zustand die Augen gehalten wären.

Freunde, nehmt euch an den Elsen ein Exempel, und suchet auch ihr nicht zu ferne, wenn es ausfindig zu machen gilt, welche etwa zur Schlachtbank gezeichnet seien. Fangt mit der Erkundigung zwischen euern eignen Wänden an, und schließt euch selber nicht von denen aus, die ihr darauf anseht, ob etwa sie die Beweinenswerthen seien. Im Gegentheil, haltet die Leuchte zuerst über das eigne Haupt und Herz. Gen Mitternacht wallen nicht Solche nur, die offen zur Aufruhrsfahne der Feinde Gottes und seines Gesalbten schwuren; es gibt auch Menschen, die mit der aufgeschlagenen Bibel in der Hand, mit dem Kreuzeszeichen an ihrem Halse, und mit dem Namen Jesu auf der Lippe - zur Hölle fahren.

4.

Um den Gegenstand ihrer Nachforschungen nicht zu verfehlen, nahmen die Suchenden in unsrer Scene zu einem Lichte ihre Zuflucht, und zwar zu dem hellsten und durchdringendsten der Welt, welches nimmer trügt und niemals falschen Schein gibt. Es ist das Licht der Augen Jesu, der Alles ergründenden, der Herz und Nieren prüfenden. „Herr,“ sprechen sie Einer nach dem Andern, tief geängstigt und bekümmert, „bin ich's, bin ich's?“ - Und o, wie rührend ist dieser Zug, wie lieblich, und wie nachahmungswürdig! -

Mit derselben Laterne, mit welcher jene, suchte einst auch David. „Erforsche mich, Gott,“ sprach er, „und erfahre mich; prüfe mein Herz und siehe, wie ich es meine!“ Die Pharisäer suchten den Mann des Todes nimmer bei diesem Lichte, sondern bei dem ihrer Eigenliebe; und darum verfehlten sie ihn stets, obwohl sie ihn so nahe hatten. Von den Unsern suchen Viele ihn bei dem betrüglichen Scheine falscher Merkmale, und ertappen deßhalb ihn ebensowenig, wie ihn jene fanden. O du durchdringendes Augenlicht des großen Gottes! Möchte doch ein Jeder an dich sich wenden, daß du ihm helfen wollest den Sünder entdecken! Wie bald wäre derselbe in seinen verborgensten Verstecken aufgespürt, und wie viel näher träfe zu seiner Ueberraschung ein Jeder, als er es je vermuthet hätte! -

5.

Wir fragen endlich nach dem Erfolge, der die Nachforschungen der Elfe krönte, und gelangen nunmehr zum bedeutsamsten und erquicklichsten Momente unsrer Textesscene. Das Kind des Todes ist entdeckt. Es führt's ein Jeder wie am Strick dem Herrn zu, und überliefert es Seinem Gerichte. - „Ein Jeder?“ fragt ihr stutzend. So ist es! Mit Ausnahme eines Einigen haben sie Alle, Petrus und Johannes sowohl, wie Andreas, Jakobus und Philippus und die Andern den Sünder, auf den der Heiland hingedeutet, in ihren eignen Personen erhascht und in Haft genommen. - „ In ihren eignen Personen?“ - Nirgends sonst. Hört ihr schmerzliches „Herr, bin ich's?“, das sie an den Meister lichten, und bemerkt die niedergeschlagene Miene, den thränenfeuchten Blick, womit sie dieses Wort begleiten. Was wollen sie sagen? Ein Jeglicher unwillkürlich nichts Anderes, denn dies: „Ja, Herr, so verderbt finde ich mein Herz, daß ich zu allem Bösen fähig, und, wenn der Wind der Versuchung darnach wehte, möglicherweise selbst (auch Petrus fühlt Solches in diesem Augenblicke noch) im Stande wäre, dich, du höchstes Gut, wie du gesagt hast, zu verrathen. Unbehütet mir selbst gelassen, vermag ich in nichts für mich einzustehn. Wehe, unter die Sünde fühle ich mich verkauft, und mit meinen besten Vorsätzen finde ich mich als ein schwankendes Rohr im Winde!“ - Seht, Freunde, dies die Empfindung unfrei Jünger. Das Wild, dem sie nachgesetzt, ist erjagt; der bezeichnete Uebelthäter eingefangen. Aber heilvolle Inhaftnahme dies! Denn indem sie den Erhaschten, ein Jeder in sich selbst, vor den Herrn führen, daß Der ihn richte und ihn binde, lesen sie Plötzlich in dem holdseligen Liebesblick des Meisters ein süßes Wörtlein, und das heißt: „vergriffen!“ und gleich darauf tönt dasselbe sie verständlicher noch aus seiner mündlichen Erklärung an: „Ihr seid es nicht, sondern „der mit mir in die Schüssel taucht, der wird mich verrathen!“ - „Ei“, höre ich euch sagen, „so hatten die Elfe sich ja doch verthan?“ - Keineswegs, lieben Freunde! In dem, daß sie in sich der Fähigkeit nach den treulosen Verräther erkannt zu haben glaubten, verthaten sie sich nicht; daß derselbe aber die Frevelthat nicht wirklich vollbrachte, verdankten sie der Hut und Bewahrung Dessen, dem sie ihn unverholen überlieferten, der mit göttlichen Fesseln ihn band, durch seinen heiligen Geist ihn entkräftete, und ihn einem andern, bessern Ich in ihnen unterthänig machte.

Vernehmt, Geliebte, die große Lehre, welche der Auftritt unseres Textes auf seinem Grunde trägt. Die wirklich Verlorenen in der Welt, die „Kinder des Zornes“, sind diejenigen, die entweder den fluchwürdigen Sünder in sich nicht erkennen, oder, wie der schwarze Rabe dort unter den Gästen in dem Saale zu Jerusalem, den Sohn des Verderbens wohl in sich wahrnehmen, aber ihn weder selber richten, noch dem Herrn ihn überantworten mögen, daß Er ihn dem Tode übergebe; sondern vielmehr ihn nur zu retten, und, wie eben dort der falsche Bruder unter den Zwölfen mit seinem blos nachgeäfften und Unschuld und Aufrichtigkeit erheuchelnden „Rabbi, bin ich's?“ zu verlarven trachten. Alle die hingegen, welche den zu jedem Bösen fähigen Sünder in sich selbst nicht allein ertappten, sondern auch in heiliger Entrüstung wie geschlossen vor das Angesicht des heiligen Gottes führen, das Verdammungsurtheil dieses allerhöchsten Richters über ihn auf den Knieen als ein gerechtes und wohlbegründetes verehren, und flehend die Gnade darum angehn, daß sie mit dem Blitze des Geistes ihn zerschmettern und statt seiner einen neuen Menschen, einen Menschen Gottes in ihnen erzeugen wolle; - diese preisen wir selig. Denn von dem Momente solcher Selbstverhaftung an sind sie als Individuen bezeichnet, wider welche der Steckbrief des obersten Gerichtshofs zurückgenommen wird, und brauchen vor keiner Anklage, sei es Mose's oder des Satans, mehr zu erzittern. „So wir uns selber richteten“, sagt die Schrift, „so würden wir nicht gerichtet;“ und an einem andern Orte: „Die sich demüthigen, die erhöhet Er, und wer seine Augen niederschlägt, der wird genesen.“

Neigen wir denn der Aufforderung Jeremiä, des Propheten, unser Ohr: „Lasset uns forschen und suchen unser Wesen, und uns zum Herrn kehren!“ Sprechen wir betend mit unserm Kirchenliede: „Erleuchte mich, Herr, mein Licht! Ich bin mir selbst verborgen, und kenne mich noch nicht.“ Und geben wir Raum in unseren Herzen den Worten eines andern Sängers:

Herr, komm mit deinem Lichte
Und deines Geistes Schein!
Dein heilge Strahlen richte
Tief uns in's Herz hinein,
Daß Schauder uns durchwallen
Vor unsrer Sünden Graus,
Und dir zu Fuß wir fallen,
Und flehn: Hilf uns heraus!

Amen.

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