Kierkegaard, Sören - Die Krankheit zum Tode - Nachwort

Kierkegaard, Sören - Die Krankheit zum Tode - Nachwort

1.

Der Grundgedanke dieser Schrift gehört zu den ersten eigenen Gedanken Kierkegaards. Ist das Christentum eine „Radikalkur“ (was Kierkegaard in seinem 22. Lebensjahr zu Bewußtsein kam), so muß es von einer radikalen Krankheit heilen; und daß diese die Verzweiflung ist und die Verzweiflung Sünde ist, auch das mußte Kierkegaard zum Bewußtsein kommen als er um diese Zeit von der „stillen Verzweiflung“, in der er schon lange gelegt hatte, zur offenen Verzweiflung überging. Aber diese Gedanken sind sehr langsam in ihm herangereift: so hat denn die Verzweiflung (und dann natürlich auch ihre Heilung) in den früheren Schriften Kierkegaards nicht denselben Sinn wie in der „Krankheit zum Tode“. Der Plan zu dieser Schrift taucht zuerst auf im Februar oder März 1848. Da trug Kierkegaard in sein Tagebuch ein: „Es soll ein neues Buch geschrieben werden, das soll heißen: Gedanken die im Grunde heilen; christliche Arznei. Hier soll die Lehre von der Versöhnung behandelt werden. Zuerst muß nachgewiesen werden, worin die Krankheit im Grunde liegt: die Sünde. Es gibt also eine Zweiteilung. Erster Teil (vom Bewußtsein der Sünde): die Krankheit zum Tode; christliche Reden. Zweiter Teil: die Heilung um Grunde; die christliche Arznei; die Versöhnung.“ Leider wurde der notwendige zweite Teil nicht ausgeführt; an seine Stelle trat die „Einübung im Christentum“. Auch der erste Teil wurde nach langen Erwägungen leider nicht in der ursprünglich beabsichtigten Form von Reden ausgeführt, sondern als die etwas „dozierende“ Schrift wie wir sie jetzt haben. Um ihrer Verbindung mit der „Einübung im Christentum“ willen wurde sie dann auch als eine Schrift eines Anti-Climacus von Kierkegaard nur herausgegeben.

Warum Kierkegaard was er darin den Anti-Climacus sagen läßt nicht in eigener Person hätte sagen dürfen, ist eigentlich nicht einzusehen. Die Angriffe auf die Christenheit sind darin nicht schärfer als z.B. in „Leben und Walten der Liebe“.

Die „Krankheit zum Tode“ wurde ausgegeben den 30. Juli 1849. Ins Deutsche wurde die Schrift zuerst übersetzt von A. Bärthold, der sie dem Leser zu erleichtern suchte indem er sie stark kürzte und die Darstellung vereinfachte. Dann hat sie für diese Ausgabe der Hauptwerke Kierkegaards H. Gottsched übersetzt, vollständig und mit möglichst genauem Anschluß an den Wortlaut des Originals. Ich nun hielt es mindestens für erwünscht, daß diese Übersetzung für eine neue Ausgabe nicht bloß durchgesehen, sondern über- und umgearbeitet werde. Da für ein streng wissenschaftliches Studium Kierkegaards eine Übersetzung doch nicht genügt, glaubte ich dabei, in Bärtholds Weg zurücklenkend, Kierkegaards Gedanken so wiedergeben zu sollen daß sie von dem Leser, für den die Schrift bestimmt ist, auch zugeeignet werden können. Doch habe ich mich näher an das Original gehalten als Bärthold, und manchmal sogar als Gottsched, während ich andrerseits auch vor einer Umarbeitung des Originals (durch die natürlich nur deutlicher und schärfer herausgearbeitet werden sollte, was Kierkegaard sagen wollte) nicht zurückschreckte. Es ist mir über der Arbeit an dieser Schrift noch empfindlicher als sonst zum Bewußtsein gekommen daß die dem Übersetzer gestellte Aufgabe nur annähernd zu lösen ist. Das Richtige wäre wohl eine doppelte Übersetzung: eine ganz streng an den Wortlaut sich haltende, die uns das dänische Original mit deutschen Worten wiedergäbe; und eine ganz freie, die, um möglichst scharf auszurücken was Kierkegaards sagen wollte und sagen mußte, sich gar nicht an das bände was er wirklich sagte. Aber die erste Art der Übersetzung wäre doch eigentlich überflüssig; und die zweite könnte ich mir nicht zutrauen, da ich in der Auffassung der Sache von Kierkegaard abweiche. Meine hier dargebotene Übersetzung ist ein recht mühsamer Kompromiß, der als solcher mehr oder weniger gut und schlecht ist. Doch hoffe ich, sie könnte sogar auch für das Studium des Originals mit Nutzen gebraucht werden.

2.

Kierkegaard erwartet, diese Schrift werde manchem zu wissenschaftlich erscheinen um erbaulich zu sein, und zu erbaulich um wissenschaftlich zu sein. Damit drängt er uns selbst die Frage auf, ob er darin das Interesse der Erbaulichkeit und das Interesse der Wissenschaft richtig verbunden habe. Da ich diese Frage gar nicht unbedingt bejahen kann, will ich um so mehr darauf hinweisen daß Kierkegaards sich und jedem, der sich mit solchen Dingen im Ernst beschäftigt, die Aufgabe richtig gestellt hat: nämlich seinen Gegenstand zugleich wissenschaftlich und erbaulich zu behandeln. Diese Aufgabe aber ist so schwierig, daß hier, wenn irgendwo, der Wille, auch wenn er nicht für die Ausführung genommen werden darf, doch schon auf Anerkennung Anspruch hat.

Kierkegaard hat richtig erkannt, daß überall, wo es sich nicht bloß um Kenntnisse sondern um Weisheit handelt, das Interesse der Erbauung und des Denkens ineinander ohne Rest aufgeht. Erbaut wird ein Mensch nur durch gute, also wahre Gedanken; und zu guten, also wahren Gedanken kommt man doch wohl nur durch Denken – das als solches strenges Denken ist. Soweit ein Mensch nicht streng denkt, denkt er überhaupt nicht, erbaut er sich also auch nicht. Die Wertlosigkeit einer Erbauung die auf strenges Denken verzichten zu dürfen, ja zu müssen glaubt, oder die andern strenges Denken ersparen zu sollen glaubt, hat sich in der Geschichte der Christenheit nachgerade zur Genüge erwiesen. Andrerseits: streng denken, das tun wir immer nur gezwungen; gezwungen nämlich durch das Bedürfnis sich zu erbauen: ein Bedürfnis, das für den Geist so zwingend ist wie für den Körper das Bedürfnis nach Nahrung. Die Fragen der Weisheit (der Welt- und Lebensanschauung; der Religion; der Philosophie) nimmt nur der ernst, der entdeckt hat daß er einen festen Grund braucht sich darauf zu erbauen; die Lehrer der Weisheit nimmt nur der ernst, der mit Hilfe ihrer Erkenntnisse sein Leben, sich selbst erbauen will. Weil das Bedürfnis sich zu erbauen oft so schwach ist: deshalb herrscht auf dem Gebiete der Philosophie und Theologie ein Dilettantismus, der seine Unfähigkeit zu ernstem, strengem Denken bald durch eine mechanische Methodik, bald durch eine oft nicht minder erzwungene Geistreichigkeit zu verschleiern sucht; und deshalb werden die großen Denker oft mit einer solchen historischen Gewissenhaftigkeit behandelt, daß ihre großen, guten Gedanken nachzudenken darüber versäumt und vergessen wird.

Also: damit hat Kierkegaard durchaus recht, daß er das Interesse der Wissenschaft führt gerade auch in der „Krankheit zum Tode“ weder das Interesse der Wissenschaft so streng durch, daß seine Gedanken ganz erbaulich würden, noch das Interesse der Erbauung so streng daß seine Gedanken ganz wissenschaftlich würden. Darauf sei im gemeinsamen Interesse der Wissenschaft und der Erbauung hier hingewiesen.

3,

Wenn man gleich zu Anfang der Schrift liest: „das Selbst ist ein Verhältnis das sich zu sich selbst verhält; oder ist das im Verhältnis daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält; also nicht das Verhältnis, sondern daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält“ – so findet man sich durch diese Wissenschaftlichkeit schwerlich erbaut. Aber sie ist auch nicht wissenschaftlich. Man mache die Probe. Was ist das: ein Verhältnis welches sich zu sich selbst verhält? das in einem Verhältnis daß es sich zu sich selbst verhält? Was ist das? Wird mir auf diese Frage irgendwer die Antwort geben: „Das ist ein Selbst“? Schwerlich; vielmehr: gewiß nicht. Also ist damit das Selbst auch nicht definiert. Das Selbst läßt sich überhaupt nicht definieren. Es ist aber nicht wissenschaftlich, das was überhaupt nicht definiert werden kann anscheinend zu definieren. Um sich mit mir über das verständigen zu können was er „das Selbst“ heißt, kann Kierkegaard nur versuchen, mir diejenigen Erlebnisse in Erinnerung zu rufen, an die er denkt wenn er von seinem Selbst redet; um mir dann, wenn ihm das gelungen ist weil ich solche Erlebnisse schon gehabt habe, zu sagen, daß er an eben das denke wenn er von dem „Selbst“ rede. Verstehen wir uns auf diese Weise nicht, so verstehen wir uns überhaupt nicht. Wenn es ihm aber gelingt mich an mein „Selbst“ zu erinnern, so werde ich die genauere Kenntnis des Selbst aus meiner Erinnerung holen, nicht aus den Worten mit denen er mir nur andeuten kann was er als „Selbst“ erlebt; und dann braucht er sich wirklich nicht die doch vergebliche Mühe zu machen, mir das Selbst in Worten erschöpfend zu beschreiben oder also „wissenschaftlich“ zu definieren. Ich rate also dem Leser, sich mit den wissenschaftlich sein sollenden Formeln, die Kierkegaard überall und hier insbesondere liebt, nicht abzuquälen, und sich durch das was er von Kierkegaards Worten versteht, nur an das erinnern zu lassen was er aus seiner Erinnerung heraus allein wirklich verstehen kann. Ich erlaube mir sogar zu behaupten, daß dieser Verzicht auf Wissenschaftlichkeit wissenschaftlicher ist als eine exakte Wissenschaftlichkeit, die die Aufmerksamkeit bei dem Wort festhält, das eine Sache bezeichnen soll, und dadurch von der Sache ablenkt, die durch das Wort bezeichnet werden soll. und so kann man sich erbauen, während es nichts weniger als erbaulich ist, sich z.B. ein Verhältnis vorstellen zu wollen das sich zu sich selbst verhält.

Auch andre wichtige Hindernisse der Erbauung werden dadurch beseitigt, daß man es mit der Wissenschaftlichkeit etwas genauer nimmt als Kierkegaard. Als höchst unerbaulich berührt mich, daß Kierkegaard durch seine Theorie von der Allgemeinheit und Sündhaftigkeit der Verzweiflung dem, der gar nicht verzweifelt ist und sich in der Verzweiflung, die er gar nicht ha, also auch nicht als Sünder fühlen kann, einreden will daß er doch verzweifelt sei und in seiner Verzweiflung sündige; und unerbaulich finde ich auch, daß Kierkegaard das, das Christentum als Unwahrheit abzulehnen, durchaus zum höchsten Grad der Verzweiflung und Sündhaftigkeit stempeln will. Diesen Verstoß gegen die Erbaulichkeit hätte Kierkegaard aber vermieden, wenn er die wissenschaftliche Aufgabe genau bestimmt hätte die ihm durch seinen Gegenstand gestellt ist. Es handelt sich für ihn um das Selbst, um die Verzweiflung, um das richtige und falsche Verhältnis zu Gott (Glauben und Sünde), und um das richtige und falsche Verhältnis zu Jesus Christus. Also hätte Kierkegaard zu untersuchen, wie der Mensch das Selbst, das er immer schon ist, doch erst wird; welche Bedeutung in der Geschichte des Selbst das hat, daß der Mensch verzweifelt; welche Bedeutung in der Geschichte der Verzweiflung das hat, daß der Mensch auf das stößt was ihm durch das Wort „Gott“ angedeutet wird; welche Bedeutung für die Geschichte des Verhältnisses zu Gott das hat, daß der Mensch mit Jesus Christus zusammentrifft. Wird das der Reihe nach genau untersucht, so tritt, denke ich, in das richtige Licht, daß mit der Verzweiflung, der Ahnung „Gottes“, dem Zusammentreffen mit Jesus je eine Metamorphose des Selbst eintritt: eine Metamorphose freilich auf die der Mensch angelegt ist, die aber doch erst eintritt; und daß ich den Menschen vor der Metamorphose nicht als den beurteilen und behandeln darf der er durch die Metamorphose erst wird. Es ist für die Raupe nicht zum Verzweifeln, daß sie als die Raupe, die sie noch ist, nur kriechen kann und noch nicht fliegen kann als der Schmetterling, der sie erst wird; und es ist von der Raupe auch keine Sünde, daß sie als die Raupe, die sie noch ist, Blätter frißt und nicht schon den Honig lebt, was sie erst als der Schmetterling tun kann, der sie erst wird. So ist auch der Mensch, der noch nicht verzweifelt ist, wirklich auch nicht verzweifelt; und ehe der Mensch überhaupt zu Gott in ein Verhältnis gekommen ist, kann er weder das richtige noch ein unrichtiges Verhältnis zu Gott haben, also weder glauben noch sündigen; und ehe der Mensch in eine innerliche Berührung mit Christus gekommen ist, ist er der eben noch nicht (weder im Guten noch im Bösen), der er durch die innerliche Berührung mit Christus erst wird. Ist es nun für den Schmetterling Kierkegaard eine Qual, daß die Raupen und Puppen um ihn her nicht fliegen und Honig saugen, so ist das seine Qual, mit der er sich abfinden mag wie er will. Gesetzt aber, er könne den Raupen und Puppen einreden, daß ihr Zustand zum Verzweifeln sei und sie sich auch gegen die Blätter und den Honig schwer versündigen, indem sie jene fressen und diesen verschmähen, so verleidet er ihnen bloß ihren Raupen- und Puppenstand, ohne ihre Entwicklung zum Schmetterling dadurch zu fördern; und schließlich bringt er sie dazu, daß sie sich an seinem Gerede vom Fliegen und vom Honig ärgern. Er füttere die Raupen mit den Blättern von denen sie sich als Raupen nähren können; und er bewahre die scheintoten Puppen davor daß sie nicht zerquetscht werden: das ist nicht bloß das beste, sondern das einzige, was er für ihre Metamorphose zum Schmetterling tun kann. Was er tut, dient nicht zur Erbauung; und der Fehler, den er wohlmeinend macht, ist, daß er sich über die Entwicklungsgeschichte des Wesens, das aus der Raupe und Puppe zum Schmetterling wird, nicht erst klar wird ehe er es behandeln will.

Man sieht auch leicht ein, wie Kierkegaard zu diesem sonderbaren Fehler kommt. Er hat auf die Sinnestäuschung „Christenheit“ zwar aufmerksam gemacht, sie aber selbst noch nicht recht durchschaut. Weil in der „Christenheit“ alles „Christ“ genannt wird, auch wer mit Christus noch nicht in eine innere Berührung gekommen ist, ja noch nicht einmal den unbekannten Gott ahnt, ja noch nicht einmal an Genuß, Besitz, Ehre verzweifelt ist; weil also da auch die Raupe und Puppe schon Schmetterling genannt wird: so meint er, er müsse den Raupen und Puppen, die sich Schmetterlinge heißen, beibringen, daß sie nicht mehr kriechen oder tot daliegen sondern fliegen, und daß sie nicht mehr Blätter oder überhaupt nichts fressen sondern Honig saugen. Und wenn sich die Puppen dadurch nicht aufwecken lassen, und die Raupen sich dadurch im Kriechen und Fressen nicht irre machen lassen: so kann er das nicht begreifen und wird sogar recht böse. Namentlich daß die Raupe, die auf einen höheren Zweig hinaufgekrochen ist und feineres Laub frißt, wie ein richtiger Schmetterling zu fliegen und Honig zu saugen glaubt oder vorgibt, das kann er gar nicht ertragen und hält es für eine große Sünde; fast so groß wie die Sünde, daß die Raupe über das Fliegen und den Honig (also: über das Gerede vom Fliegen und vom Honig) gar noch spottet und frech erklärt, sie wolle ein sogenannter Schmetterling überhaupt nicht werden. Daß die Raupe einerseits ganz recht hat und andrerseits der Schmetterling, der sie nicht werden will, doch werden wird (wenn sie nämlich ihre ganze Geschichte durchlaufen darf): das ist für Kierkegaard ein wirklich unverständliches Paradox. Und so redet er mit den Raupen und Puppen und von den Raupen und Puppen oft in einem sehr unerbaulichen Ton – weil er es leider mit dem Denken nicht streng genug nimmt.

4.

Und er nimmt es mit dem Denken (oder also mit der Wissenschaftlichkeit) nicht streng genug, weil er die Aufgabe zu erbauen nicht streng ins Auge gefaßt hat. Ja, um es gerade herauszusagen, ich finde diese seine Schrift überhaupt nicht erbaulich, nur erweckend.

Einen Grund hierfür gibt Kierkegaard in der Vorrede selbst ganz harmlos an. Er fasse in dieser Schrift die Verzweiflung nur als die Krankheit auf, nicht als das Heilmittel. Da könnte man nun denken, das stehe in seinem freien Belieben. Aber es ist für den Kranken doch gar nicht erbaulich, daß der Arzt an seinem Bette über dem Reden von der Krankheit das Reden von der Heilung vergißt oder auch nur die Krankheit als die Hauptsache behandelt. Ihn, den Kranken, interessiert die Belehrung über die Krankheit doch nur als etwaige Bedingung der Heilung. Er will ja nicht gelehrter Mediziner werden, sondern nur gesund. Und ist die Verzweiflung zugleich die Krankheit und das Heilmittel, so ist es auch unwissenschaftlich, sie nur als Krankheit, nicht auch als Heilmittel aufzufassen. Dies beides ist sie ja immer zugleich; also kann niemals von dem einen abstrahiert werden – auch wenn das für wissenschaftlich zulässig und nützlich gilt. Hätte Kierkegaard den Zweck der Erbauung sicher im Auge gehabt, so hätte er dieses Abstrahieren gewiß als ebenso unwissenschaftlich wie unerbaulich erkannt. Doch liegt der Fehler noch viel tiefer.

Er tritt am deutlichsten zutage in Kierkegaards Definition des Glaubens. Glaube ist für ihn: „daß das Selbst, indem es es selbst ist und es selbst sein will, [sich selbst] durchsichtig sich gründet in Gott.“ Das ist eine sehr unerbauliche Rede: wie soll ich das bewerkstelligen mich in Gott zu „gründen“? Daß ich nach Kierkegaard glauben soll, hilft mir über die Schwierigkeit nicht weg (oder richtiger: hat mir über diese Schwierigkeit nicht weggeholfen. Das Erbauliche aber ist, daß diese Schwierigkeit gar nicht vorhanden ist. Ich brauche mich gar nicht erst in Gott zu gründen, weil ich in Gott gegründet bin. Ich bin ja, wie mir Kierkegaard selbst sagt, ein von Gott gesetztes Selbst; und Gott hat mich, indem er mich setzte, wirklich gesetzt, nämlich auf einen soliden Grund und Boden, und nicht in die freie Luft hinausgeschleudert. Der Grund und Boden, auf den mich Gott gesetzt hat, ist er selbst. Oder allgemeiner: als gesetztes Selbst brauche ich mich nicht erst selbst zu setzen, kann mich auch nicht erst selbst setzen, brauche ich nur zu verstehen daß ich gesetzt bin; und nur indem ich mich als das gesetzte Selbst verstehe, das ich nun einmal bin, kann ich mich wirklich verstehen, als was und zu was ich gesetzt bin. Ob man das dann „Glauben“ heißt oder sonstwie, ist mir gleichgültig; aber so steht die Sache.

Und von da aus verstehe ich mein Verhältnis zu Gott etwas anders als Kierkegaard sein Verhältnis zu Gott verstand, das doch kein anderes war als mein Verhältnis zu Gott. Daß ich mich nämlich in Gott gegründet vorfinde schließt in sich, daß ich unweigerlich in Gottes Hand bin; so unweigerlich, daß ich mich darein nicht erst zu finden brauche – so wenig wie ich mich darein erst zu finden brauche, daß ich einmal sterben werde. Wie wenn darauf etwas ankäme! Und so verstehe ich den Trotz gegen Gott nicht, der für Kierkegaard ein Angelpunkt seiner ganzen Auffassung des Verhältnisses zwischen Mensch und Gott ist. Ich finde ihn so lächerlich wie den Trotz gegen den Tod; oder ich finde darin, daß jemand sagt er biete dem Tod oder Gott Trotz, nur ein lächerlich großartiges Gerede und Getue. Wie ich auch, je länger ich darüber nachdenke, das moderne großartige Gerede und Getue mit der Bejahung und Verneinung des Lebens nur lächerlich finden kann. Kinderei! Übrigens glaube ich Kierkegaard auch nicht was er von dem Trotz gegen Gott sagt. In seinen Tagebüchern, worin wir doch ein ziemlich getreues und vollständiges Abbild seines Innenlebens haben, finde ich keine Spur davon, daß er tatsächlich einmal Gott hätte trotzen wollen. Was er von dem Trotz der Sünde sagt, scheint mir nur Konsequenzmacherei zu sein: eine Konsequenz, gezogen aus einem Christentum das gar nicht Kierkegaards wirkliches Verhältnis zu Christus war. Auch hat sich Kierkegaard in Wirklichkeit gar nicht dadurch erbaut daß er sich (erst!) in Gott gründete, sondern durch die Einsicht daß er (immer schon!) in Gott gegründet war. Die sinnlose Rede von einem Trotz gegen Gott erkläre ich mir etwa so. Mir kommt der Trotz nur gegen Menschen, die mir verwehren wollen ich selbst zu sein – der ich doch unweigerlich und unvermeidlich bin. Nun lieben es gewisse Menschen (z.B. auch Kierkegaard), mir das daß ich ich selbst bin durch Berufung auf Gott verwehren zu wollen. Wenn ich mir das trotzig nicht gefallen lasse, meinen sie (oder tun sie wenigstens so), ich trotze Gott. Ich selbst habe mir früher auch weismachen lassen, daß ich Gott trotze wenn ich mich innerlich gegen etwas empöre was Menschen im Namen Gottes von mir verlangen. In Wirklichkeit ist es mir natürlich niemals eingefallen, Gott Trotz zu bieten – so wenig es mir jemals eingefallen ist, dem Tode Trotz zu bieten oder dem Wechsel von Tag und Nach und dergleichen. So lächerlich macht sich doch niemand! Wer Gott trotzt, hat mit Gott gar nichts zu tun; wer sagt daß er Gott trotze, verrät damit nicht nur daß er mit Gott gar nichts zu tun hat, sondern auch daß er von seinem wirklichen Verhältnis zu Gott noch gar keine Ahnung hat. Auch Kierkegaard denkt bei dem Trotz der Sünde wohl nur an den Trotz gegen das Christentum; also nicht an einen Trotz gegen Gott, sondern an den Trotz gegen eine gewisse Meinung von Gott; also nicht an Trotz gegen Gott, sondern an Trotz gegen Menschen. Es scheint mir seine schlimmste Entgleisung zu sein, daß er 22jährig diesen Trotz gegen eine gewisse Meinung von Gott (die er für christlich hielt) aufgeben zu sollen glaubte, weil er ihn für Trotz gegen Gott hielt.

Wenn mir zum Bewußtsein gekommen ist daß ich in Gott gegründet bin, ergibt sich daraus die erbauliche Aufgabe für mein Denken, zu verstehen wie ich in Gott gegründet bin. Das begreift in sich, daß ich verstehe was Gott mit mir will und durch mich will und von mir will. Natürlich kann ich mir das nur von Gott sagen lassen; und so muß ich also die Sprache Gottes verstehen lernen: muß verstehen lernen, wie Gott mir das kundgibt was er mit mir und durch mich und von mir will. Da das erste und zweite ohne mein Zutun sich vollzieht, ob ich es verstehe oder nicht verstehe, ob ich es will oder nicht will, fällt für mich der Schwerpunkt natürlich in das dritte; das muß aber wohl in der Richtung des ersten und zweiten liegen, ist also aus diesem zu erraten. Ob ich es richtig errate, ist aber nicht von entscheidender Bedeutung, da was Gott mit mir und durch mich will natürlich sich unabhängig von dem vollzieht, ob ich erkenne und tue was er von mir will. Ein Trotz hat übrigens gegen das dritte so wenig Sinn wie gegen das zweite und erste. Hiermit habe ich aber auch die Formel angegeben für Kierkegaards eigenes wirkliches Leben mit Gott, das sich nach seinen Tagebüchern wesentlich in der Erwägung vollzog, was Gott mit ihm, durch ihn, von ihm wolle.

Auch „die Krankheit zum Tode“ ist aus diesen Erwägungen heraus entstanden – und verrät freilich auch, daß Kierkegaard in dieser seiner eigentlichen und wirklichen „Theologie“ nicht den wirklich nächsten und besten Weg eingeschlagen hat. Er ließ sich durch die Rücksicht auf das überlieferte sogenannte Christentum beirren.

5.

Endlich habe ich gegen die „Krankheit zum Tode“ noch ein Bedenken ganz andrer Art, das sich doch wieder zugleich auf die Erbaulichkeit und Wissenschaftlichkeit der darin vorgetragenen Auffassung des Menschen bezieht.

Kierkegaard sieht hier den Menschen nur in dem Verhältnis zu sich selbst und in dem Verhältnis zu Gott. Ich stehe aber außer zu mir und zu Gott auch noch in einem Verhältnis zum andern Menschen. Und das ist für mich als Selbst gar nicht nebensächlich. Nicht nur erwacht das Selbst gerade in dem Verhältnis zum andern Menschen, der mir als ein Selbst gegenübertritt; auch mit Gott kann ich mich über mich selbst gar nicht verständigen ohne in das Verhältnis zu Gott auch das Verhältnis zum Nächsten hineinzuziehen. Was Gott durch mich und von mir will, bezieht sich gerade auf den Nächsten. Das Leben des Selbst hat drei Dimensionen: Kierkegaard beschreibt es hier, wie wenn es nur zwei Dimensionen hätte. Ja manchmal erscheint das Selbst fast als eindimensionale Größe: als bloßes Verhältnis zu sich selbst.

Das zeigt sich an demselben Punkte am deutlichsten, wo sich auch am deutlichsten verrät daß Kierkegaard das Verhältnis des Selbst zu Gott nicht der Wirklichkeit entsprechend denkt. Kierkegaard stellt die These auf, daß nach christlicher Auffassung der Gegensatz zur Sünde nicht die Tugend sei, sondern der Glaube. Aber nach christlicher Auffassung ist der Gegensatz zur Sünde doch auch die Liebe. Das vereinigt Kierkegaard dadurch, daß er Glauben und Liebe als Akte des Gehorsams auffaßt; so daß der eigentliche Gegensatz zur Sünde der Gehorsam wäre – also doch eine Tugend. Ich meine: Glaube ist Glaube, und Liebe ist Liebe, und Gehorsam ist weder Glaube noch Liebe sondern Gehorsam. Ich verweise den Gehorsam in die Kinderstube und meine, ein Selbst werde der Mensch dadurch daß er aufhört ein Kind zu sein. Mit dem Gehorsam hört aber weder Glaube noch Liebe auf, und deren gemeinsamer Gegensatz ist allerdings die Sünde. Denn obgleich Glaube und Liebe zweierlei ist, kann doch nur der glaubende lieben und der Liebende glauben. ich beziehe den Glauben nur auf Gott und die Liebe nur auf den Nächsten. Im kritischen Moment nun zeigt sich, daß den Nächsten nur lieben kann wer an Gott glaubt, und an Gott nur glauben kann wer den Nächsten liebt. Und andrerseits: wer wirklich an Gott glaubt liebt den Nächsten, und wer wirklich den Nächsten liebt glaubt an Gott. Endlich kommt der Mensch nur dadurch in das richtige, gute, sichere Verhältnis zu sich selbst, daß er an Gott glaubt und den Nächsten liebt. In dem allen hat aber Gott die Initiative; so daß er, indem er sich mir offenbart, meinen Glauben an ihn erzeugt und in der Liebe zu dem Nächsten, die die Frucht des Glaubens ist, selbst den Nächsten liebt – wie auch ich in der Liebe des Nächsten zu mir (die die Frucht seines Glaubens an Gott ist, den Gott in ihm erzeugt) von Gott geliebt werde.

So wird das Leben des Selbst richtig aufgefaßt (nämlich nach den drei Dimensionen die es hat); und diese richtige Auffassung ist auch die allein erbauliche. Natürlich ist sie im Grunde auch die Auffassung Kierkegaards wie jedes wirklichen Menschen (nämlich jedes Menschen, der wirklich auch Mensch ist). Aber indem Kierkegaard gerade auch in der „Krankheit zum Tode“ das Leben des Selbst überwiegend nur nach zwei Dimensionen darstellt (im Verhältnis des Selbst zu sich selbst und in seinem Verhältnis zu Gott), ja bisweilen nur nach einer Dimension (im Verhältnis des Selbst zu sich selbst), erregt er den Anschein, als ob es darin aufginge daß das Selbst verzweifelt und beseligt nur sich um sich selbst drehe; und das ist nicht nur ein bloßer Schein, sondern auch ein recht böser Schein. Wer nur sich selbst durchsichtig werden wollte, und indem er sich selbst in Gott gründete nur sich selbst erschaffen wollte, läuft doch Gefahr auf sich selbst einzuschrumpfen: wogegen der wirkliche Mensch sich mit gesundem Instinkt sträubt. Und weil dabei der Nachdruck immer stärker auf die Bewußtheit des Verhältnisses zu sich selbst fällt, droht auch das Verständnis für die Vorgeschichte des Selbst verloren zu gehen, in der das Selbst nicht bloß noch nicht es selbst ist sondern doch auch schon es selbst ist. Diese Vorgeschichte des Selbst spielt sich insbesondere in der natürlichen Liebe ab, also in dem naiven Liebesverhältnis zwischen Mensch und Mensch, in der Freundschaft und in der erotischen Liebe. Das hat Kierkegaard, zum schweren Schaden für die Erbaulichkeit seiner Gedanken, nicht richtig erkannt und gewürdigt. Daß das liebende Mädchen sein Selbst glücklich an den Geliebten verliert, ist doch nicht bloß unbewußte Verzweiflung, wie seine Liebe auch nicht bloß unbewußte Selbstliebe ist. Wenn es sich selbst wirklich an den Geliebten verliert, gewinnt es zugleich sich selbst; und ist die Liebe, worin es sich wirklich an den Geliebten verliert, auch nicht selbstlos, so ist sie doch auch nicht selbstsüchtig, vielmehr nur das intensive Bewußtsein der tatsächlichen Verbundenheit mit dem Geliebten. Diese Verbundenheit selbst aber, und daß sie intensiv, erschüttern und beglückend ins Bewußtsein tritt, ist nicht ein hemmendes Hindernis, sondern eine treibende Kraft in der Entwicklung des Selbst zum Selbst. Auch Kierkegaard ist nur durch sein Verhältnis mit Regine Olsen das Selbst geworden das er wurde; und in der Verbindung mit Regine Olsen wäre er wohl ein gesünderes Selbst geworden als so, da er diese Verbindung nicht wagte. Wie es vielleicht auch Reginens Entwicklung zum Selbst förderlicher gewesen wäre, daß sie nicht eine glückliche Frau Schlegel, sondern eine unglückliche Frau Kierkegaard geworden wäre – wenn sie nicht gar als unglückliche Frau Kierkegaard doch glücklich geworden wäre. Das hätte gerade für Kierkegaard keine sinnlose Paradoxie sein sollen.

6.

Der Leser dieses Nachworts wird nun, hoffe ich, sich davon überzeugt haben, daß es für mich gar nicht um eine Kritik der Schrift handelt, die ich trotz aller Bedenken gegen ihren Inhalt dem deutschen Leser zugänglich machen wollte. Vielmehr wollte ich dem Leser, der sich, nach Kierkegaards Wunsch, mit Hilfe dieser Schrift erbauen will, nur einige Winke dafür geben, wie er sich mit ihrer Hilfe auch wirklich erbauen kann. So wie sie lautet ist sie wenig erbaulich, ja zum Teil völlig unerbaulich. Aber sie kann ins Erbauliche umgedacht werden. Leitmotive für diese nicht ganz leichte Arbeit sind (es ist überhaupt nicht so ganz leicht, sich zu erbauen): daß richtig (und das bedeutet hier: liebevoll; mit einem guten Auge) erfaßt und gewürdigt werde, welche Bedeutung das Wechselverhältnis mit dem andern Menschen für die Entwicklung des Selbst zum Selbst hat; und daß die Entwicklung des Selbst zum Selbst streng aufgefaßt werde als von Gott angeregt, weitergetrieben und geleitet. Ich werde von Gott zu dem Selbst, auf das ich von Gott angelegt bin, erzogen; daß ich mich selbst zum Selbst erziehe, hat nur den einen möglichen und guten Sinn, daß ich auf meine Erziehung durch Gott eingehe; und aß und wie ich auf meine Erziehung durch Gott eingehe, wird eben durch Gott bestimmt, der mich dadurch erzieht daß er mich zu einer bestimmten Art mich selbst zu erziehen nötigend antreibt und anleitet. Von da aus ist dann wieder zu verstehen, wie Gott das Verhältnis zum Nächsten zu meiner Erziehung benutzt. Und dazu gehört auch, wie Gott mich unter den Einfluß von Vorgängern auf dem Wege zum Selbst bringt – deren erster oder letzter Jesus Christus sein mag. Wird dies richtig verstanden, so mag sich auch zeigen, daß das Verhältnis zu Jesus Christus sich nicht in die Wahl „glauben oder sich ärgern“ einzwängen läßt. Und so mag noch manche schiefe Auffassung Kierkegaards berichtigt werden – und so die reiche Fülle von Erfahrung und Beobachtung und Reflexion in Kierkegaards Schriften (und insbesondere in dieser Schrift) für die Erbauung erst recht fruchtbar gemacht werden.

Christoph Schrempf

Druck der Spamerischen Buchdruckerei in Leipzig

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