Göbel, Karl - Joseph - ein Vorbild Jesu.

Göbel, Karl - Joseph - ein Vorbild Jesu.

Es gibt keinen traurigeren Anblick, als einen Menschen zu sehen, der in einem Wahn, oder in einer Selbsttäuschung befangen ist. Welches Mitleid erregt uns nicht ein Mensch, der sich noch für steinreich hält, während wir anderen bereits wissen, dass sein ganzes Vermögen verloren ist. Wie schmerzlich fällt es uns, einen Kranken zu sehen, der sich für kerngesund hält, während er sichtlich dem Grab zuwankt; oder einen Staatsmann, der auf der Höhe seiner Macht zu stehen wähnt, und siehe, er weiß nicht, dass der Befehl schon unterzeichnet ist, der ihn aller Ehren und Würden entkleidet und ihm Gefängnis oder Verbannung bringt. Unter allen Täuschungen, in welche wir arme Menschenkinder verfallen können, ist die bedauerlichste und schrecklichste die Täuschung über unser Verhältnis zu Gott. Wie schrecklich ist es, wenn ein Mensch Gnade und Gunst, oder gar Lohn von Gott erwartet und findet statt dessen Zorn, Gericht und Verwerfung; wenn er sich beruft auf sein Herr, Herr sagen und das Urteil hören muss: Ich habe euch noch nie erkannt, weicht alle von mir, ihr Übeltäter. In solcher furchtbaren Verblendung befanden sich die Juden zur Zeit Christi und der Apostel. Ihre Verblendung war aber eine doppelte, sie kannten Gott nicht und kannten sich selbst nicht. Sie kannten den Gott der Herrlichkeit nicht, der frei schaltet und waltet als höchste Majestät, der erwählt und verwirft, welche er will, der in der Ausführung seines Gnadenratschlusses an keinen Ort und keine Zeit, an keine Person und kein Volk gebunden ist. Sie kannten den Gott der Herrlichkeit nicht, der den Abglanz seiner Herrlichkeit in der Person Jesu von Nazareth in die Welt gesandt hatte; der ferner seine Herrlichkeit gerade darin offenbart, dass er sein Reich nicht wie durch einen Zauberschlag fertig hinstellt, sondern durch Jahrhunderte und Jahrtausende wachsen und sich entwickeln lässt aus einem Senfkorn zu einem weltbeschattenden Baume. Diesen Gott der Herrlichkeit kannten die Juden nicht, sie kannten aber auch sich selbst nicht und ebenso wenig ihre Zeitgenossen und ihre Vorfahren. Von ihrer Halsstarrigkeit, ihrem Widerstreben, ihrer Unbeschnittenheit an Herzen und Ohren hatten sie keine Ahnung. Sie erwarteten unfehlbar, dass ihnen das Reich und die Herrlichkeit beschieden werden sollte und wussten nicht, dass sie am Vorabend des schrecklichsten Gerichts standen, das je über ein Volk und über eine Stadt ergangen ist. Weil sie weder den Gott der Herrlichkeit noch ihre eigene Verkehrtheit und Halsstarrigkeit kannten, darum wurden sie so aufgebracht, als Stephanus ihnen Änderung des Gesetzes und der Sitten in Aussicht stellte und sie mit Verstörung der heiligen Stätte bedrohte. In ihrem blinden Eifer beschuldigten sie ihn der Lästerung Mosis, des Tempels und des Gesetzes und schleppten ihn vor den Gerichtshof des hohen Rates. Wir haben vor acht Tagen den Anfang der Verteidigungsrede des Stephanus betrachtet, der davon handelt, wie der Gott der Herrlichkeit, wie Abrahams Gott, ein treuer Gott ist, der Glauben hält ewiglich, der seine Verheißungen zwar allmählig und stufenweise der Erfüllung entgegenführt, aber unwandelbar und unwiderstehlich sein Endziel erreicht; wie darum Abraham ein Mann der Hoffnung und der Zukunft ist, der als Inhaber der Verheißung, die zur Erfüllung erst werden soll, auf Veränderung, auf Wechsel und Wandel in seinem und seines Samens Lebensschicksalen, auf stufenweise Entfaltung und Erwerbung der vorgehaltenen Heilsgüter angewiesen ist. Wie der Mann Gottes geführt wurde, ebenso wird aber auch das Haus Gottes und das Volk Gottes geführt und zwar so lange geführt, bis die Verheißung zur Erfüllung geworden ist. Das sind die Gedanken, die Stephanus in der Fortsetzung seiner Verteidigungsrede ausführt:

Und die Erzväter neideten Joseph, und verkauften ihn nach Ägypten, aber Gott war mit ihm und er rettete ihn aus aller seiner Trübsal, und gab ihm Gnade und Weisheit vor dem König Pharao in Ägypten, der setzte ihn zum Fürsten über Ägypten und über sein ganzes Haus. Es kam aber eine teure Zeit über das ganze Land Ägypten und Kanaan, und eine große Trübsal, und unsere Väter fanden nicht Fütterung, Jakob aber hörte, dass in Ägypten Getreide wäre, und sandte unsere Väter hin aufs erstemal. Und zum andernmal ward Joseph erkannt von seinen Brüdern, und ward Pharao Josephs Geschlecht offenbar. Joseph aber sandte aus, und ließ holen seinen Vater Jakob, und seine ganze Freundschaft, fünf und siebzig Seelen. Und Jakob zog hinab nach Ägypten, und starb, er und unsere Väter; und sind herübergebracht nach Sichem, und gelegt in das Grab, das Abraham gekauft hatte ums Geld von den Kindern Hemors zu Sichem.
Apostelgesch. 7, 9-16.

Von der Berufung und Führung des Abraham als eines einzelnen Mannes geht Stephanus über zur Geschichte seines Hauses und zwar zu dem Zeitpunkt, wo dasselbe sich zu einer Familie von zwölf Erzvätern und nachher von fünfundsiebzig Seelen erweitert hatte. Den Mittelpunkt des Textabschnittes bildet offenbar Joseph und zwar ist der Grundgedanke, der dem Stephanus bei seiner ganzen Ausführung vorschwebte und den herauszufinden er seinen in ihres Volkes Geschichte wohlbewanderten Zuhörern schon zumuten konnte, kein anderer als folgender:

Der Erzvater Joseph ein Vorbild Jesu von Nazareth.

Demnach ist die Geschichte Josephs und seiner Brüder eine weissagende auf Jesus und das Volk Israel und diese Wahrheit erläutert Stephanus an drei Begebenheiten:

  1. An der Behandlung, die dem Joseph von seinen Brüdern widerfuhr.
  2. An dem Walten Gottes über ihm und durch ihn.
  3. An Josephs Verfahren mit seinen Brüdern.

Lasst uns diese drei Stücke aus dem Leben Josephs betrachten in ihrer Vorbildlichkeit auf Jesum von Nazareth.

I.

Der erste Gegenstand unserer Aufmerksamkeit ist die Behandlung, die dem Joseph von seinen Brüdern widerfuhr. Davon sagt der Text V. 9: Und die Erzväter neideten Joseph und verkauften ihn in Ägypten. Diese böse Gesinnung lässt uns einen tiefen Blick in den inneren Zustand der Hauses Jakobs tun. Es war eine Zwietracht und ein Zerwürfnis zwischen den Gliedern Eines und desselben Hauses eingetreten und zwar eine solche Spaltung, deren innerster Grund kein anderer war als Abfall von Gott, obwohl äußere Veranlassungen wie Josephs bunter Rock und seine Träume den Vorwand hergeben mussten, diese innere Gesinnung des Abfalls von Gott zu verdecken. Die Brüder Josephs waren trotz ihrer äußeren Patriarchenwürde dennoch innerlich unfromm geworden und wandelten nicht vor Gott; darum verkannten sie die Offenbarungen Gottes und die Weissagungen seines Willens, welche er ihnen durch den doppelten Traum Josephs von den Garben und von den Sternen kundgegeben hatte. Sie neideten den, welchen Gott erwählt und zum Fürsten über sie bestimmt hatte und wollten also wider Gott streiten. Der Gott der Herrlichkeit sollte gewissermaßen gezwungen sein, sich an ihr patriarchalisches Erbrecht zu halten - und sich nicht herausnehmen dürfen, Einen von ihnen und zwar den vorjüngsten gegen alles Herkommen zu begünstigen. Der Groll, den sie innerlich gegen Gott hegten, richtete sich äußerlich gegen ihren Bruder Joseph und zwar gingen sie in ihrer Verbitterung bis zum Mord, zur Überlieferung an die Heiden und Ausstoßung aus der heiligen Familie. So war ein tiefer Riss entstanden in dem heiligen Haus zwischen einer überwiegenden Mehrheit und einer unbedeutenden Minderheit. Es standen ihrer Zehn gegen Einen (denn Benjamin, der Jüngste, kommt nicht in Betracht). Nicht nur das Zahlenverhältnis, sondern auch alle anderen Umstände, wie Erstgeburt, reiferes Alter usw. vereinigten sich gegen den Einen. Die Lage, in welche Joseph durch den Neid seiner Brüder geriet, war eine höchst leidensvolle. Während die Brüder Josephs äußerlich im Besitz des Vermögens, der Macht und Ehre des Hauses blieben, ferner im Zusammenhang mit den heiligen Überlieferungen ihrer Väter und des ihren Nachkommen verheißenen Landes und den Segen Abrahams, Isaaks und Jakobs an ihre Personen fesseln zu können wähnten, war Joseph verstoßen, enterbt, aus dem Land der Verheißung weggeführt, geschieden von den heiligen Stätten der Offenbarung, ein verkaufter Sklave im Heidenland, und für die Familie so gut wie tot. So stand es äußerlich, und so hatten Menschen entschieden; aber wie verhielt sichs innerlich, wie und wodurch entschied Gott? Gott war mit Joseph, heißts V. 9 u. 10, und errettete ihn aus aller seiner Trübsal, so dass er in Segen und Überfluss lebte; seine Brüder dagegen kamen in der teuren Zeit in große Trübsal durch Mangel an Nahrung und Fütterung. Sie mussten bei Joseph betteln gehen und hätten verhungern müssen, wenn er ihnen nicht geholfen hätte. Also blieb Joseph doch der Nasir unter seinen Brüdern, die kommen mussten und sich vor ihm neigen und so wider Willen die Träume des Träumers wahr machen. Gott war mit ihm, ob sich auch Menschen wider ihn setzten.

Was sollten nun die Zuhörer Stephani aus dieser Vorhaltung des Verfahrens der Patriarchen gegen Joseph lernen?

1) Dass das sündliche Verderben schon von Anfang an unter ihren Vätern nach dem Fleisch tiefe Wurzel geschlagen hatte und Israel von jeher, als Familie, wie als Volk, ein ungehorsames Haus gewesen sei; ja dass es bis auf den heutigen Tag nicht besser stehe, indem die Juden eben erst es gerade so mit dem Joseph des neuen Bundes gemacht hatten, wie vor Alters die Patriarchen mit dem Joseph des alten Bundes. Aus Neid hatten sie den von Gott als Erben und Fürst über das Haus Israel Bezeichneten verworfen, in den Bann getan, die große Mehrheit der Obersten, das Priestertum, die Schulen hatten ihn mit ihrem Hass verfolgt, ihn verurteilt, an die Heiden verraten und getötet - und dennoch blieb Jesus, der andere Joseph, der heilige Knecht Gottes, der Auserwählte, der König in Israel, vor dem alle Völker sich neigen sollten.

2) Die damaligen Juden sollten ferner von Stephanus lernen, dass dem Baum des falsch israelitischen Wesens die Axt bereits an die Wurzel gelegt war, während das schwache Reis aus der Wurzel Isai, entrückt vor den Thron Gottes und erhöht zur Rechten Gottes, ein neues Israel geschaffen hatte, dem das Erbe des alten, abgefallenen zu Teil wurde. Was half es den Juden zu Stephani Zeit, in ihren Heiligtümern eine Puppe zu verwahren, aus welcher der Schmetterling entflohen war? Es half ihnen gerade soviel, als den Wächtern des Herodes die Bewachung eines leeren Gefängnisses, aus dem Petrus längst entführt war1).

Wir fragen nun aber auch, was wir aus diesem Teil der Rede des Stephanus lernen sollen?

1) Dass Geburt, Beschneidung und überhaupt die äußere Zugehörigkeit zu der heiligen Familie und zum Hause Gottes oder, neutestamentlich zu reden, zur heiligen Kirche für sich allein noch nicht gut macht und darum nicht vor Verwerfung bewahrt.

2) Dass der große Haufe in der christlichen Kirche noch heut zu Tage nicht besser ist, als die Masse in der jüdischen Volksgemeinschaft war. Die Zerteilung in Minderzahl und Mehrzahl, in Kern und Schale, wie sie in der Familie Jakobs und im Volk Israel stattfand, findet sich durch alle Zeiten hindurch und wird sich finden bis ans Ende. Darum kann es nicht anders sein, als dass diese innerlich tief gehenden Unterschiede von Unkraut und Weizen, von Zeit zu Zeit auch in dieser oder jener Weise äußerlich sichtbar werden. Es werden sich immer Zeiten wiederholen, wo die Kirche weltlich wird und sich mit der Weltmacht verbündet, um den frommen Joseph aus ihrer Mitte zu stoßen. Dadurch aber wird sie selbst zur falschen Kirche, denn nur wo Joseph ist, da ist auch das wahre Haus Gottes.

3) Endlich ist wohl zu merken, dass der Widerstand gegen Gottes Wort und Werk in der Tücke des Herzens seinen ersten und letzten Grund hat. Neid verblendete die Brüder, dass sie in Joseph ihren Fürsten nicht erkannten, wie Eifersucht die Obersten der Juden zur Verkennung des Ratschlusses Gottes mit Jesu führte. Nur der kann ein rechter Israelit sein, der ohne Falsch ist. Die Söhne Jakobs waren keine rechten Israeliten trotz dem, dass sie die Patriarchenwürde bekleideten, und die Zuhörer Stephani waren ebenfalls keine rechten Israeliten trotz Tempel, Gesetz, Priestertum und Schriftgelehrsamkeit. - Wie erkennt man aber, auf welcher Seite das Recht ist, wenn Spaltung entsteht? Das vermag nur ein Herz, das aufrichtig ist vor Gott, denn nur ein solches erkennt mit einfältigem Auge die Sache Gottes auch im äußeren Unterliegen und in der Minderheit von Einem gegen Hunderte. Ein Herz ohne Falsch richtet nicht nach dem Ansehen und der äußeren Erscheinung, sondern nach dem inneren Wesen. Ein Herz ohne Falsch lässt sich nicht bestechen durch äußeren Glanz, oder Macht, oder Erfolg, sondern sieht einzig darauf, auf welcher Seite Jesus steht. Jesus ist aber unfehlbar auf der Seite, auf welcher keine Versündigung stattfindet. Jesus ist da, wo kein Neid, kein Verrat, keine Gewalttat ist. Nur allein aufrichtige Frömmigkeit hilft zur Erkenntnis der Wahrheit, wenn Spaltungen auf dem Gebiet der christlichen Kirche vorhanden sind. Bei einer unlauteren Herzensstellung hilft aller Eifer für Kirchlichkeit und Gottesdienstlichkeit, alles Hängen am Alten und Hergebrachten nichts, sondern wird Halsstarrigkeit und Herzenshärtigkeit gegen die Wahrheit und gegen das Neue, was der heilige Geist schafft. Darum gilt es fort und fort zu beten: Erforsche mich Gott und erfahre mein Herz; prüfe mich und erfahre, wie ichs meine. Siehe, ob ich auf bösem Wege bin und leite mich auf ewigem Wege!2).

II.

Der zweite Punkt, worauf wir in der Geschichte Josephs und seiner Vorbildlichkeit auf Jesum unser Augenmerk zu richten haben, ist das Walten Gottes über ihm und durch ihn. Davon sagt Stephanus: Gott gab ihm Gnade und Weisheit vor dem König Pharao in Ägypten, der setzte ihn zum Fürsten über Ägypten und über sein ganzes Haus (V. 10). - Der Herr war nicht nur mit Joseph, wie wir gesehen haben, und darum war er „ein glückseliger Mann“ trotz der Feindschaft und Misshandlung seiner Brüder, der Erzvater; der Herr errettete ihn nicht nur aus aller Trübsal, sondern erhöhte ihn zum Fürsten über Ägypten. Den von den Seinen verkannten und ausgestoßenen Joseph machte Gott groß im fremden Land und verschaffte ihm die Herrschaft über die Heiden, die ihn willig anerkannten als ihren Heiland. Dem Herrn Jesus ist es gerade so ergangen wie seinem Vorbild, dem Joseph. Als Jesus geboren wurde, erschrak das ganze Jerusalem, und er musste nach Ägypten fliehen; aber die Heiden aus Morgenland waren gekommen, ihn anzubeten. Er war in sein Eigentum gekommen, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf, sondern pochten darauf, dass keiner der Obersten an ihn glaube. Auch seine eigenen Brüder glaubten nicht an ihn und die Leute in seiner Heimat Nazareth wollten ihn zu Tode stürzen. Dagegen fand er Anerkennung und Glauben bei Samaritern und bei Heiden, wie bei dem dankbaren Aussätzigen, dem kanaanäischen Weibe und dem Hauptmann zu Kapernaum. Diese Verachtung und Verwerfung des anderen Joseph vollendete sich, als der durch Leiden und Tod Erhöhte, seinen Geist ausgegossen hatte und somit sich erwies als König über das Volk Gottes. Weil sein Volk ihn verwarf, darum wurde Jesus Fürst über die Heiden. Während sein Stammvolk bis auf den heutigen Tag seufzen muss in Trübsal und Elend, genießen die Völker der Heiden, die sich seiner Herrschaft unterwarfen, seiner Gnade, seiner Weisheit und aller seiner königlichen Wohltaten. Das ist der gegenwärtige Stand der Dinge, der andere Joseph ist noch immer Fürst über Ägypten d. h. Christus und sein Evangelium ist bei den Heiden, und die Vereinigung des anderen Josephs mit seinen Brüdern nach dem Fleisch ist bis heut noch nicht erfolgt. Daher herrscht noch immer geistliche Hungersnot bei den Juden. Wenn die Juden das Brot des Lebens haben wollen, müssen sie zu Joseph nach Ägypten kommen und von den Heidenchristen das Brot kaufen, denn das Evangelium ist zu den Heiden gegangen. Indessen verfügt der Herr auch in der Christenheit, die aus den Heiden hervorgegangen, die manchfaltigsten Veränderungen und Umgestaltungen, wie Joseph solche in Ägypten verfügte. Wie zur Zeit des alten Bundes der Gott der Herrlichkeit zur Stätte seiner Offenbarungen bald Kanaan erwählte, bald Ägypten, bald die Wüste Sinai; wie ferner im gelobten Land die Lade erst in Siloh war und zuletzt in Jerusalem, und endlich das Volk nach Babel kam und wieder zurück nach Jerusalem, so erwählt die Herrlichkeit des eingeborenen Sohnes vom Vater bald dieses bald jenes Land zur Offenbarung seiner Herrlichkeit. Vom Morgenland, von wo der Leuchter weggestoßen wurde, ist das Evangelium ins Abendland gewandert, von Jerusalem nach Rom, und im Abendland von Rom nach Zürich und Wittenberg und vorzugsweise durch Handreichung Britanniens zu den wilden Heiden ferner Weltteile. Noch immer behält Jesus sich vor, die Sitten und die Stätten auch innerhalb des neuen Bundes zu ändern.

Was haben unter diesen Umständen wir zu tun? Wir müssen dem Joseph nachwandern wie Jakob. Jakob zog hinab in Ägypten (V. 15), als er gehört hatte, dass sein Sohn Joseph dort lebe. So sollen wirs auch machen. Wo unser Joseph ist, da ist gut sein, da wollen wir Hütten bauen. Es geschieht nur zu oft, dass aus Jerusalem ein Sodom wird, dann sollen wir innerlich nichts mit ihm zu schaffen haben und innerlich von ihm ausgehen. Sollen wir deutlicher reden, so müssen wir sagen, dass es das beständige Bestreben des Teufels ist, da, wo Gott ein Paradies geschaffen hat, sich als Schlange einzuschleichen, die Wege, die Gott gebahnt hat, unwegsam zu machen, die Brünnlein lebendigen Wassers, die Gott hat quellen lassen, zu verderben und zu vergiften, oder ohne Bild, wo Gott irgend eine ordentliche oder außerordentliche Veranstaltung getroffen hat, sein Reich zu mehren, da sucht der Teufel dieselbe unwirksam zu machen. Der Teufel hat die Kirche verdorben, er hat auch die Sekten verdorben, in welche sich das christliche Leben aus der Kirche flüchtete. Gott hat das christliche Vereinswesen hervorgerufen als Salz für die Kirche, aber der Teufel wird sich auch dieser Formen christlichen Lebens zu bemächtigen suchen. Durch diese teuflische Zerstörungssucht entsteht nun Hungersnot und Verkümmerung der Seelen und der andere Joseph muss, um dem Einreißen des Verderbens zu begegnen, immer von Neuem Sitte und Gesetz und Stätten ändern, neue Kornhäuser bauen d. h. neue Maßregeln ergreifen, um gesunde geistliche Nahrung bereit zu haben. Wir aber haben wie gesagt unserem Joseph nachzuwandeln, wenn er ruft und spricht: Kommt zu mir, ich will euch Güter geben in Ägyptenland, dass ihr essen sollt das Mark im Lande3). Wo Er ist, da sollen wir auch sein und er ist nicht schwer zu finden, denn wo wahre Gottseligkeit sich zeigt, wenn auch unter den verschiedensten Gestaltungen und Formen, da ist Er, wo Brot des Lebens sich findet, da ist auch der rechte Ernährer, und von ihm sollen wir uns versorgen lassen auf diese oder jene Weise, wie es ihm gefällt.

III.

Wie das Leiden, das Joseph von seinen Brüdern zu erdulden hatte, ein Vorbild auf Jesum war, und ebenso das Walten Gottes über ihm und durch ihn, das ihn zum Heiland des heidnischen Volkes machte, so war nicht minder sein Verfahren mit seinen Brüdern ein solches Vorbild. Davon sagt Stephanus v. 12 u. 13: Jakob sandte unsere Väter aufs Erstemal, und zum Andernmal ward Joseph erkannt von seinen Brüdern.

Es ist bekannt aus der Geschichte Josephs, wie er sich seinen Brüdern, als sie zum ersten mal kamen, Getreide zu kaufen, nicht zu erkennen gab, sondern sich fremd stellte, ja hart mit ihnen redete und zwar durch einen Dolmetscher. Das geschah freilich nicht aus Lieblosigkeit, sondern damit sie zur Erkenntnis ihrer Schuld gegen ihn kommen sollten. Und diesen Zweck erreichte Joseph wirklich sofort, denn sie sprachen unter einander: Das haben wir an unserem Bruder verschuldet, darum kommt nun diese Trübsal über uns. Deshalb konnte er, als sie zum zweiten Mal kamen, sich zu erkennen geben und sprechen: Ich bin Joseph euer Bruder, den ihr in Ägypten verkauft habt. So hat auch der erhöhte Jesus sich seinem Volk, seinen Brüdern nach dem Fleisch, nicht in seiner persönlichen Erscheinung zu erkennen gegeben, sondern durch seine Dolmetscher, die Apostel, hart mit ihnen geredet, ihnen ihre Sünde vorrücken lassen und Buße predigen, damit sie zur Erkenntnis ihrer Schuld kommen sollten. Es war die Absicht des Stephanus, dass seine Zuhörer in Jesu den erhöhten Joseph wiederfinden und sich als die zur Buße berufenen Brüder erkennen sollten. Weil aber die Juden durch die Predigt der Apostel und des Stephanus sich nicht bewegen ließen, ihre Schuld an dem gekreuzigten Jesus zu erkennen, darum haben sie den Auferstandenen nicht erkannt in den Wirkungen seines Wortes und Geistes, wie solche in seiner Gemeinde vor Augen lagen. So irren denn die Juden beladen mit dem Fluch des Blutes Jesu, das über sie und über ihre Kinder gekommen ist, nun schon 1800 Jahre ohne ihren Heiland und Fürsten umher und es hat ihnen bis heut nicht zum Heil, sondern nur zum Verderben gereicht, dass er zum Erstenmale gekommen ist. Wenn er aber zum Andernmal kommt, wird er sich ihnen zu erkennen geben und sie werden sehen, in welchen sie gestochen haben4).

In diese Worte zum Erstenmal und zum Andernmal ist der Gesamtinhalt israelitisch-christlicher Hoffnung zusammengefasst. Zum Erstenmal wurde der rechte Joseph geopfert durch Versündigung seiner Brüder, sie verkannten und verstießen ihn und er wurde Fürst der Heiden, und wird es bleiben bis die Fülle der Heiden eingebracht sein wird; wenn er aber zum Anderenmal kommt, wird er auch zu der Auswahl von Israel sagen: ich bin Joseph, euer Bruder, und durch ihre Wiederannahme den Riss heilen, den seine Verwerfung ins Haus Jakobs gemacht hat.

Alles Heil für Israel, wie für die Heiden, ist aber an die Person des himmlischen Joseph geknüpft. Darum müssen auch wir so zu ihm stehen, wie Jakob, wie Benjamin zu ihm standen d. h.

1) ihn lieb haben, oder besser gesagt, von ihm geliebt sein. Wie der Jünger, den der Herr lieb hatte, an seiner Brust ruhte, so fiel Joseph seinem Bruder Benjamin um den Hals und weinte; und Benjamin weinte auch an seinem Hals. Dasselbe wiederholte sich beim Wiedersehen seines Vaters Jakob. Wer wird sich mehr aufs Wiedersehen Josephs gefreut haben, Jakob und Benjamin, die Proben seiner Liebe bekommen hatten und ihn liebten, oder die Brüder, die sich schwer an ihm versündigt hatten? Wer wird sich aufs Wiedersehen des anderen Joseph freuen? Diejenigen, die ein böses Gewissen haben und deshalb überhaupt nicht gern an Jesum Christum erinnert sind, am wenigsten an sein Wiederkommen? oder Diejenigen, die sein Wort gehört und getan haben, von seinem Geist sich leiten ließen, und mit Sehnsucht sein Kommen ersehnt haben, wie die Braut die Ankunft des Bräutigams? Die einfache Antwort auf diese Frage ergibt sich aus dem Wort des Apostels: „So Jemand den Herrn Jesum Christum nicht lieb hat, der sei verflucht, der Herr kommt!“5) - Wer wie Jakob zum erhöhten Joseph steht, der wird

2) auf ihn hoffen, wie Jakob auf seinen Joseph hoffte. Wenn Stephanus im Text sagt, und Jakob starb, so denkt er an die Hoffnung, mit der Jakob starb, nämlich, dass sein Sohn die Liebe und Treue an ihm tun werde, ihn nicht in Ägypten zu begraben, sondern ihn aus Ägypten zu führen und ins Begräbnis seiner Väter zu legen, wie Joseph ihm solches mit einem Eidschwur zugesagt hatte (1. Mos. 47,29-31). Der alttestamentliche Joseph vermochte nur die Leiche dessen, der auf seine Liebe und Treue gehofft hatte, ins gelobte Land zu führen, der neutestamentliche Joseph führt den ganzen Menschen, nachdem er seine Seele aus der Obrigkeit der Finsternis errettet und auch seinem Leib Kräfte der Auferstehung eingeflößt hat, aus dem Dienst des vergänglichen Wesens und aus dem Verderben dieser argen Welt, ins ewige Leben des himmlischen Kanaans. Wohl dem, der auf die Liebe und Treue des Joseph hofft, der gesagt hat: Ihr sollt mich sehen, denn ich lebe und ihr sollt auch leben6). Amen.

1)
Apg. 12,18
2)
Ps. 139,23.24
3)
1. Mos. 45,18
4)
Sach. 12,10
5)
1. Kor. 16,22
6)
Joh. 14,19
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