Gerok, Karl - Der Heimat zu - 4. Trinitatis.

Gerok, Karl - Der Heimat zu - 4. Trinitatis.

1883.

(Matth. 5,17-48.)

(17) Ihr sollt nicht wähnen, dass ich kommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen. Ich bin nicht kommen, aufzulösen, sondern zu erfüllen. (18) Denn ich sage euch wahrlich: Bis dass Himmel und Erde zergehe, wird nicht zergehen der kleinste Buchstabe, noch ein Titel vom Gesetz, bis dass es alles geschehe. (19) Wer nun eines von diesen kleinsten Geboten auflöst und lehrt die Leute also, der wird der Kleinste heißen im Himmelreich; wer es aber tut und lehrt, der wird groß heißen im Himmelreich. (20) Denn ich sage euch: Es sei denn eure Gerechtigkeit besser denn der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen. (21) Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist: Du sollst nicht töten; wer aber tötet, der soll des Gerichts schuldig sein. (22) Ich aber sage euch: Wer mit seinem Bruder zürnt, der ist des Gerichts schuldig; wer aber zu seinem Bruder sagt: Racha! der ist des Rats schuldig; wer aber sagt: Du Narr! der ist des höllischen Feuers schuldig. (23) Darum, wenn du deine Gabe auf den Altar opferst und wirst allda eingedenk, dass dein Bruder etwas wider dich habe, (24) So lass allda vor dem Altar deine Gabe und gehe zuvor hin und versöhne dich mit deinem Bruder, und alsdann komm und opfere deine Gabe. (25) Sei willfärtig deinem Widersacher bald, weil du noch bei ihm auf dem Weg bist, auf dass dich der Widersacher nicht dermaleinst überantworte dem Richter, und der Richter überantworte dich dem Diener, und werdest in den Kerker geworfen. (26) Ich sage dir wahrlich: Du wirst nicht von dannen herauskommen, bis du auch den letzten Heller bezahlst. (27) Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist: Du sollst nicht ehebrechen. (28) Ich aber sage euch: Wer ein Weib ansieht, ihrer zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen. (29) Ärgert dich aber dein rechtes Auge, so reiß es aus und wirf es von dir. Es ist dir besser, dass eins deiner Glieder verderbe, und nicht der ganze Leib in die Hölle geworfen werde. (30) Ärgert sich deine rechte Hand, so hau sie ab und wirf sie von dir. Es ist dir besser, dass eins deiner Glieder verderbe, und nicht der ganze Leib in die Hölle geworfen werde. (31) Es ist auch gesagt: Wer sich von seinem Weib scheidet, der soll ihr geben einen Scheidebrief. (32) Ich aber sage euch: Wer sich von seinem Weib scheidet (es sei denn um Ehebruch, der macht, dass sie die Ehe bricht; und wer eine Abgeschiedene freit, der bricht die Ehe. (33) Ihr habt weiter gehört, dass zu den Alten gesagt ist: Du sollst keinen falschen Eid tun und sollst Gott deinen Eid halten. (34) Ich aber sage euch, dass ihr allerdings nicht schwören sollt, weder bei dem Himmel, denn er ist Gottes Stuhl; (35) Noch bei der Erde, denn sie ist seiner Füße Schemel; noch bei Jerusalem, denn sie ist des großen Königs Stadt. (36) Auch sollst du nicht bei deinem Haupt schwören; denn du vermagst nicht, ein einiges Haar weiß oder schwarz zu machen. (37) Eure Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein; was drüber ist, das ist vom Übel. (38) Ihr habt gehört, dass da gesagt ist: Auge um Auge, Zahn um Zahn. (39) Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Übel, sondern, so dir jemand einen Streich gibt auf den rechten Backen, dem biete den anderen auch dar. (40) Und so jemand mit dir rechten will und deinen Rock nehmen, dem lass auch den Mantel. (41) Und so dich jemand nötigt eine Meile, so gehe mit ihm zwo. (42) Gib dem, der dich bittet, und wende dich nicht von dem, der dir abborgen will. (43) Ihr habt gehört, dass gesagt ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. (44) Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde; segnet, die euch Fluchen; tut wohl denen, die euch hassen; bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen; (45) Auf dass ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel; denn er lässt seine Sonne aufgehen über die Bösen und über die Guten und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. (46) Denn so ihr liebt, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Tun nicht dasselbe auch die Zöllner? (47) Und so ihr euch nur zu euren Brüdern freundlich tut, was tut ihr Sonderliches? Tun nicht die Zöllner auch also? (48) Darum sollt ihr vollkommen sein, gleich wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.

Auf den Berg der Bergpredigt sind wir vorigen Sonntag eingeladen worden zu einer gesegneten Kur für Geist und Herz. Dass auf jenen Höhen eine reine und gesunde Luft für den inneren Menschen weht, aber auch eine scharfe und strenge; dass dort oben herrliche Aussichten sich uns eröffnen, aber dass es auch zu steigen gibt, um sie zu genießen, das haben wir uns von Anfang an nicht verhehlt und das finden wir heute im Verlauf dieser Bergpredigt bestätigt.

Es ist in der Tat eine schwindelnde Höhe sittlicher Vollkommenheit, auf welche der Herr uns ruft mit seiner Forderung einer Gerechtigkeit, die besser ist als die der Pharisäer und Schriftgelehrten. Es ist eine scharfe Kur, der der himmlische Seelenarzt unseren inneren Menschen unterwirft, wenn er das Gesetz Gottes uns auslegt und uns dabei den Puls fühlt und gleichsam das Hörrohr auf die Brust setzt, um den innersten Herzschlag unserer Gesinnungen und Gedanken zu erforschen; ja wenn er sozusagen das Messer anlegt, um wegzuschneiden und auszureißen, was Sündhaftes mit unserem Fleisch und Blut verwachsen ist. Es ist scheinbar Unmögliches und Widernatürliches, was er von uns verlangt mit den hochgespannten Forderungen an unsere Selbstverleugnung, Nächstenliebe, Gottähnlichkeit, die wir vorhin aus seinem Mund vernommen haben, so dass wir fast mit jenem Volk von Kapernaum (Joh. 6) klagen möchten: Das ist eine harte Rede, wer mag sie hören? und mit jenen Jüngern fragen (Matth. 19): Ja wer kann denn selig werden?

Und doch was der Herr ebendort seinen Jüngern geantwortet hat, das gilt auch hier: Bei den Menschen ist es unmöglich, aber bei Gott sind alle Dinge möglich. Was dem natürlichen Menschen eine harte Rede dünkt, darin lehrt der Geist Gottes uns Worte des ewigen Lebens erkennen. Und wogegen unser Fleisch und Blut sich sträubt, das bringt die Gnade in Gottes Kindern zustande.

Darum statt wie ein verzagter Wanderer unten am Berg stehen zu bleiben mit dem Seufzer: Da komm ich nicht hinauf! und wie ein weichlicher Patient dem Arzt auszuweichen mit der Bitte: Rühre mich nicht an, du tust mir weh! wollen wir gerade den stärksten Stellen in unserem Abschnitt genauer auf den Grund sehen und fragen:

Ist es Unmögliches, was der Herr in der Bergpredigt von uns fordert?

  1. In Selbstverleugnung?
  2. In Nächstenliebe?
  3. In Gottähnlichkeit?

Herr, du kennst meine Schwäche, nur deiner harre ich;
Nicht das, was ich verspreche, was du sprichst, tröstet mich!
Richt' auf die lassen Hände und stärk die müden Knie
Und sage mir am Ende: Die Seligkeit ist hie! Amen.

Ist es Unmögliches, was der Herr in der Bergpredigt von uns fordert:

1) In Selbstverleugnung?

„Ärgert sich dein rechtes Auge, so reiß es aus und wirf es von dir. Ärgert dich deine rechte Hand, so haue sie ab und wirf sie von dir. Es ist dir besser, dass eins deiner Glieder verderbe, und nicht der ganze Leib in die Hölle geworfen werde.“

Ist das nicht eine harte Rede, ein Schlag ins Auge für den natürlichen Menschen? Heißt das nicht soviel als: Wüte wider die Natur und wirf weg, was der Schöpfer selbst dir gegeben hat?

Nun, meine Freunde, dass dies Wort des Herrn wie so manches andere in der Bergpredigt und sonst nicht buchstäblich zu nehmen, sondern im Geist und in der Wahrheit zu verstehen ist; dass diejenigen den Herrn missverstanden haben, welche in düsterer Schwärmerei und finsterer Askese ihren Körper verstümmeln oder ihren Rücken geißeln und einen Stachelgürtel um ihren Leib legen, um die Gerechtigkeit zu erlangen, welche vor Gott gilt, das braucht man einem evangelischen Christen nicht erst auseinanderzusehen. Das Auge auszureißen, das des Leibes Licht ist nach dem eigenen Wort des Herrn; die Hand abzuhauen, die uns gegeben ist, um zu arbeiten und wohlzutun; von den leiblichen Sinnen oder von den geistigen Gaben, mit denen uns der gütige Schöpfer ausgestattet hat für unseren Menschenberuf, auch nur eines gewaltsam abzutöten soviel verlangt der Herr nicht. Und doch - er verlangt im Grunde mehr. Nicht nur einen Schnitt ins Fleisch mutet er uns zu, sondern einen Schnitt ins Herz; nicht eine äußere Selbstpeinigung, sondern eine innere Selbstverleugnung; nicht einen einmaligen Gewaltstreich gegen unsere Natur, sondern einen unausgesetzten Kampf mit Fleisch und Blut, eine beständige Verleugnung unserer selbst.

Ärgert dich dein rechtes Auge, so reiß es aus; ärgert dich deine rechte Hand, so haue sie ab! was heißt das anders als: Verleugne dich selbst! Und wenn einer deiner angeborenen Sinne und wäre es der kostbarste, wenn eine deiner gottgeschenkten Gaben und wäre es die edelste, wenn irgend ein irdischer Genuss und wäre er noch so reizend, eine natürliche Neigung und schiene sie noch so schuldlos, eine menschliche Beschäftigung und schiene sie noch so erlaubt oder gar nützlich dir zur Versuchung wird, vom Guten dich abhält, von Gott dich weglenkt, für deine Christenpflicht dich träge, für deinen ewigen Beruf dich untüchtig macht und dich in Gefahr bringt, Schaden zu leiden an deiner Seele, dann weg damit und täte es dir noch so weh! Dann entsage diesem Vergnügen und sei blind für die reizendste Augenluft und sei taub für die lockendste Weltmusik; dann reiß dich los von dieser Verbindung und streckte deine Hand sich noch so sehnlich danach aus und blutete dir das Herz bei der Trennung; dann reiß diese Neigung aus deiner Brust mit einem einzigen mannhaften Entschluss und wär dir's auch, als rissest du ein Stück deines Lebens mit heraus, und geht's auf einmal nicht, so kämpfe immer aufs neue dagegen und ruhe nicht, bis du sagen kannst: Der Strick ist zerrissen und ich bin los!

Ist das etwas Unmögliches, Unvernünftiges, Widernatürliches? Hat der Herr nicht Recht: „Es ist dir besser, dass eines deiner Glieder verderbe, und nicht der ganze Leib in die Hölle geworfen werde?“ Wenn du merkst, irgend ein leiblicher Genuss ist dir schädlich, diese Speise oder jenes Getränk kannst du nicht vertragen: wirst du dann sagen: Es schmeckt mir eben so gut, ich bins einmal gewohnt, ich kann nicht davon lassen, und wirst lieber deine Gesundheit untergraben als dein Gelüsten bezwingen? Oder wenn eines deiner Glieder tödlich verletzt wäre und der Arzt spräche: Es muss weg, sonst frisst das Übel, das darin sitzt, weiter und vergiftet den ganzen Körper - wirst du dann nicht ob auch unter schwerem Kampf dich in Gottes Namen entschließen, lieber ein Glied zu opfern, um deinen Leib zu retten, dein Leben zu erhalten? Und wenn es nun nicht ums zeitliche Leben, sondern ums ewige sich handelt; wenn's nicht nur des Leibes Gesundheit, sondern das Heil der Seele gilt: solltest du nicht können und wollen auf einen Genuss verzichten, einem Wunsch entsagen, einen Trieb bezwingen, dich selbst verleugnen?

In der Tat, meine Freunde, wer sich selbst wahrhaft liebt, wem es zu tun ist um sein eigenes wahres Wohl und ewiges Heil, der muss auch lernen, sich selbst verleugnen, gar nicht zu reden von der Liebe Gottes, die mit dem Psalmisten spricht: Herr, wenn ich nur dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erden, und von der Liebe zum Heiland, die mit dem Apostel alles für Schaden achtet, um nur Christum zu gewinnen. Darum verleugne dich selbst, - das ist die erste Bedingung unserer Heiligung und unseres Heils; wo unsere eigene Kraft nicht dazu reicht, da wollen wir den Herrn bitten:

Reiß die Wurzel meiner Schmerzen,
Reiß die Sünd aus meinem Herzen!
Tief im Staube bitt ich dich:
Heilige du selber mich!

Aber wenn nicht in der Selbstverleugnung, fordert der Herr nicht Unmögliches von uns:

2) In der Nächstenliebe?

„Ich sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Übel, sondern so dir jemand einen Streich gibt auf den rechten Backen, dem biete den anderen auch dar. Und so jemand mit dir rechten will und deinen Rock nehmen, dem lass auch den Mantel.“ Das ist ja doch von all den hohen Forderungen und schweren Zumutungen, die der Herr sonst und hier in seiner Bergpredigt an unsere Nächstenliebe stellt, die allerschwerste und unleidlichste. Und wer das buchstäblich meinte nehmen zu müssen, dem könnte man die Frage nicht verübeln: Ist denn das möglich und vernünftig? Wäre denn das nützlich und heilsam, oder auch nur recht und gut? Hieße denn das nicht sich selbst wegwerfen, die Bösen aufmuntern, das Recht auf den Kopf stellen, die öffentliche Sicherheit untergraben; wenn der Christ so weit in der Taubeneinfalt und Lammesgeduld gehen müsste; wenn das, wodurch da und dort einmal irgend ein wunderlicher Heiliger sich lächerlich gemacht hat, zum allgemeinen Gesetz und Recht werden sollte?

Nun, meine Lieben, wir wissen wohl: In all diesen körnigen Sprüchen der Bergpredigt ist ein Körnlein Salz; und ein Körnlein Salz, ein wenig Witz gehört auch dazu, sie zu verstehen.

Wir wissen wohl, mit seinem: „Ich sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Übel“ will der Herr nicht der Obrigkeit das Schwert aus der Hand nehmen, das sie an Gottes Statt trägt als Rächerin zur Strafe über den, der Böses tut (Röm. 13,4), sondern er hat den einzelnen Christen im Auge in seinem persönlichen Verkehr mit dem Nächsten.

Und auch dem einzelnen Christen mutet er nicht zu, sich selber wegzuwerfen, jedes Unrecht schweigend auf sich sitzen zu lassen, ja zu weiterem Unrecht den Frevler einzuladen.

Nein, was der Herr von uns fordert, ist nichts anderes als das: Lass dich nicht das Böse überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem. Also widerstrebe nicht dem Bösen mit seinen eigenen Waffen, mit Zorn und Hass, mit Unrecht und Gewalt. Also bleibe im Herzen versöhnlich und zu jedem Liebesdienst bereit, auch wo äußerlich Pflicht und Recht dich zur Abwehr nötigt, und also unter allen Umständen leide lieber zweimal Unrecht, ehe du einmal Unrecht tust.

Auch das freilich ist eine schwere Zumutung für den natürlichen Menschen.

Dagegen sträubt sich Fleisch und Blut, das unwillkürlich aufbraust wider den Beleidiger; dagegen wehrt sich unser natürlicher Stolz, dem ein Unrecht, das wir erlitten, ein Schimpf, der uns widerfahren, wie ein Feuer in den Gebeinen brennt, wie ein Gift in den Adern wühlt, bis er gerächt ist.

Dagegen steht auch Sitte und Brauch der Welt; dagegen spricht das Gebot der Ehre, der Mannesehre, der Standesehre, das ja fordert, dass auf den Schlag so schnell als möglich der Gegenschlag folge, dass ein Schimpf mit Blut abgewaschen werde, sei es das Blut des Beleidigers oder das Blut des Beleidigten.

Ach wir kennen ja dies blutige Gesetz der Ehre mit seiner tyrannischen Macht, dem je nach Stand und Beruf selbst ein edeldenkender, friedlichgesinnter Mann sich fügen muss gegen seine eigene Überzeugung, will er nicht auf Stand und Beruf in der Welt verzichten.

Wir kennen dies leidige Gesetz mit seinen traurigen Folgen, dem schon so manches edle Leben zum beklagenswerten Opfer gefallen ist bis in diese jüngsten Tage. Wir geben die Unvernunft eines Brauches zu, der oft um einer Kleinigkeit willen das Leben zweier Menschen, vielleicht das Lebensglück zweier Familien auf ein tückisches Würfelspiel setzt, wobei äußere Gewandtheit und noch mehr ein blindes Ungefähr ebenso oft gegen den unschuldig Beleidigten als gegen den leichtfertigen Beleidiger entscheidet.

Wieviel edles Blut wird noch fließen, wie manche schmerzliche Totenklage wird noch ertönen, bis dieses barbarische Überbleibsel einer heidnischen Vorzeit von der christlichen Sitte überwunden ist!

Aber darf man denn nicht heute schon auch dem ritterlichsten Mann zur Pflicht machen: Hüte dich, dass du nicht durch eigene Schuld in solch traurige Händel verflochten wirst und schäme dich nicht, bis an die äußersten Grenzen der Mäßigung und Selbstverleugnung zu gehen, ehe du dein Recht suchst auf so bedenklichem Weg?

Gehört denn nicht oft weit mehr Mut dazu, eine Beleidigung gelassen zu ertragen, als sklavisch dem Brauch zu folgen: Auge um Auge, Zahn um Zahn? Ist es nicht tapferer, sich selbst zu beherrschen, als sich hinreißen zu lassen vom aufwallenden Zorn, und ritterlicher, großmütig zu vergeben, als kleinlich und peinlich auf seinem Recht zu bestehen und unerbittlich mit jedem wirklichen oder vermeintlichen Beleidiger abzurechnen? Und gegen einen Fall, wo wir uns Vorwürfe zu machen haben: Hier habe ich nicht schlagfertig genug mein Recht, meine Ehre gewahrt - kommen nicht zehn Fälle dagegen, wo wir uns nachher schämen: Hier bin ich zu schnell aufgebraust, habe die ruhige Haltung des Mannes und die edle Fassung des Christen verloren, habe mich vom Bösen überwinden lassen, statt das Böse mit Gutem zu überwinden, durch Sanftmut den Zornigen zu entwaffnen und durch Großmut feurige Kohlen auf sein Haupt zu sammeln?

Nein, meine Lieben, der Herr verlangt nichts Unmögliches, nichts Unmännliches und Unedles von uns mit seinem Gebot der Nächstenliebe. Lieber zweimal Unrecht leiden, als einmal Unrecht tun, das ist eine Forderung für jeden Stand, für jedes Alter und für jedes Geschlecht. Und wenn der Einzelne unter uns zu schwach ist, der Welt Sitte und Brauch zu ändern: dazu ist jeder unter uns stark genug, Mann oder Frau, Krieger oder Bürger, Jüngling oder Greis, sein eigen Herz zu ändern, seinen Zorn zu zähmen, sein Fleisch und Blut zu beherrschen, seinem Schuldiger zu vergeben und dem Gebot des Herrn nachzuleben: Liebt eure Feinde; segnet, die euch fluchen; tut wohl denen, die euch hassen; bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen, auf dass ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel!

Ja, sagst du, wenn ich schon im Himmel wäre und nicht noch auf dieser rauhen Erde; wenn ich ein Engel wäre und nicht ein Mensch von Fleisch und Blut. Aber ist es nicht etwas Unmögliches, wenn der Herr von uns verlangt, wir sollen sein wie die Engel im Himmel; ja das Allerunmöglichste, was er von uns fordert:

3) In der Gottähnlichkeit,

wenn er in unserem Textabschnitt schließt: „Darum sollt ihr vollkommen sein, gleichwie euer Vater im Himmel vollkommen ist!“

Wie? ich soll vollkommen sein, ich armer, sündiger Mensch, der ich nicht nur täglich viel sündige in meinem äußeren Leben und Wandel, sondern verderbt bin im innersten Grund meines Herzens? Ich soll vollkommen sein, wie mein Vater im Himmel vollkommen ist, er der Alleinheilige, vor dem die höchsten Himmelsgeister ihr Antlitz anbetend verhüllen? Ist denn nicht der Gedanke daran schon Torheit, Selbstüberhebung, ja fast Gotteslästerung? Und doch „ihr sollt Kinder sein eures Vaters im Himmel.“ Liegt nicht darin schon des Rätsels liebliche Lösung, erhellt nicht daraus schon des Spruches köstlicher Sinn? „Kinder eures Vaters im Himmel“, also ihm ähnlich, wie ein Kind dem Vater ähnlich ist, nicht so, dass es ihm gleich wäre an Können und Wissen, an Körper und Geist; aber doch so, dass es im kleinen des Vaters Züge in seinem Antlitz, des Vaters Eigenschaften in seinem Kopf und Herzen erkennen lässt und an Leib und Seele, an Geist und Charakter je mehr und mehr dem Vater nachwächst!

Und eine solche Gottähnlichkeit - nicht an Macht und Majestät, aber an Liebe und Güte; nicht im Wirken, aber im Wollen; nicht als fertiger Besitz, aber als letztes Ziel unseres Lebens und Strebens sollte das einem Kind Gottes etwas Undenkbares, Unmögliches, oder gar etwas Unerlaubtes sein?

Kann denn ein Kind Gottes überhaupt ein niedrigeres Ziel sich stecken, ein geringeres Ideal sich vorsetzen, als vollkommen zu sein, wie sein Vater im Himmel vollkommen ist?

Und wenn die Liebe und Güte dieses großen Vaters im Himmel, der seine Sonne scheinen lässt über Böse und Gute und regnen lässt über Gerechte und Ungerechte, sich uns so menschlich mild abspiegelt im Angesicht Jesu Christi, seines eingeborenen Sohnes, unseres menschgewordenen Bruders; wenn er so ein unvergleichliches Vorbild der Selbstverleugnung, der Bruderliebe, der Gottähnlichkeit uns gelassen hat in seinem Leben und Sterben, - nun, liebe Christen, o so dürfen wir ja nur von seinem Vorbild uns leiten, von seinem Geist uns züchtigen und heiligen und erneuern lassen und wir werden je mehr und mehr Kinder unseres Vaters im Himmel werden und werden je mehr und mehr es erfahren dürfen: Seine Gebote sind nicht schwer!

Was dem Gesetz unmöglich war zu geben,
Das bringt alsdann die Gnade selbst herfür,
Sie wirket Lust zur Heiligkeit in mir
Und ändert nach und nach mein ganzes Leben,
Indem sie mich aus Kraft in Kräfte führt
Und mit Geduld und Langmut mich regiert!

Amen.

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