Gerok, Karl - Der Heimat zu! - 12. Trinitatis.

Gerok, Karl - Der Heimat zu! - 12. Trinitatis.

1887.

(Mark. 7,31-37.)

(31) Und da er wieder ausging von den Grenzen von Tyrus und Sidon, kam er an das galiläische Meer, mitten in das Gebiet der zehn Städte. (32) Und sie brachten zu ihm einen Tauben, der stumm war, und sie baten ihn, dass er die Hand auf ihn legte. (33) Und er nahm ihn von dem Volk besonders und legte ihm die Finger in die Ohren und spitzte und rührte seine Zunge, (34) Und sah auf gen Himmel, seufzte und sprach zu ihm: Hephatha! das ist: Tu dich auf! (35) Und alsbald taten sich seine Ohren auf und das Band seiner Zunge ward los und er redete recht. (36) Und er verbot ihnen, sie sollten's niemand sagen. Je mehr er aber verbot, je mehr sie es ausbreiteten, (37) Und wunderten sich über die Maßen und sprachen: Er hat alles wohlgemacht; die Tauben macht er hörend und die Sprachlosen redend.

„Er hat alles wohlgemacht; die Tauben macht er hörend und die Sprachlosen redend.“ So lautet das bewundernde Zeugnis, das Jesus aus dem Munde seines Volks davonträgt nach der wunderbaren Heilung des Taubstummen.

„Er hat alles wohlgemacht“; das gilt ja von allen seinen Liebestaten, es gilt von seinem ganzen Tagewerk auf Erden. Auch darin ist er das Ebenbild seines himmlischen Vaters, des Allmächtigen, Allweisen und Allgütigen, von dem es nach der Schöpfung heißt: „Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe da, es war sehr gut.“

Wie es aber einzelne Werke Gottes in der Natur, einzelne Taten Gottes in der Geschichte gibt, bei denen es auch dem blödesten Menschenblick besonders freudig einleuchtet: Der Herr hat alles wohlgemacht; was Gott tut, das ist wohlgetan! so zeigt sich auch in dieser Heilstat des Sohnes, da er dem Unglücklichen mit einem Machtwort zwei köstliche Gaben, Gehör und Sprache, zugleich schenkt und in der bedeutsamen Art, wie er dabei zu Werke geht, seine Macht, Liebe und Weisheit in besonders deutlichem und lieblichem Licht, so dass es hier mit ganz besonderem Nachdruck gilt: Er hat alles wohlgemacht!

Und doch so einzigartig auch dies Wunder Jesu dasteht: soll es denn einzig jenem geheilten Mann aus Galiläa zu gut kommen? Sollen wir nichts davon haben, als das bewundernde Zusehen und das schmerzliche Nachsehen? Kann nicht gerade diese Liebestat Jesu mit den zwei kostbaren Gaben, die sie dem Armen eingetragen, uns erinnern an Ähnliches, ja an Größeres, was der Herr immer noch tut, was er auch an uns tun kann und will, so dass auch wir volle Ursache haben zu dem dankbaren Bekenntnis: Er hat alles wohlgemacht; die Tauben macht er hörend und die Sprachlosen redend? Ja wir wollen's festalten und nachsprechen als ein Zeugnis, das auch wir dem Herrn schuldig sind:

Er hat alles wohlgemacht;

  1. die Tauben macht er hörend,
  2. und die Sprachlosen macht er redend.

Der Herr hat alles wohlgemacht
Und alles, alles recht bedacht,
Gebt unsrem Gott die Ehre! Amen.

„Er hat alles wohlgemacht“; dies dankbare Bekenntnis sind auch wir dem Herrn schuldig, denn noch immer gilt's von ihm:

1) Die Tauben macht er hörend.

Schon das leibliche Gehör ist ja eine kostbare Gabe des Schöpfers.

Wenn wir bedenken, was wir an unserem Gehör haben, das uns nächst dem Gesicht hauptsächlich den Verkehr mit der Außenwelt vermittelt, das Wunderreich der Töne uns aufschließt, die Gedanken unserer Nebenmenschen uns zu eigen macht, vor nahenden Gefahren uns warnt, köstliche Genüsse uns verschafft; wenn wir erwägen, was wir ohne Gehör wären; wenn wir uns in die Lage eines armen Tauben versetzen, der kein freundliches Menschenwort und keinen süßen Vogelsang, nicht das majestätische Rollen des Donners noch die erquickenden Töne einer schönen Musik vernehmen darf und dasitzt einsam mitten unter den Menschen, ausgeschlossen von ihrem traulichen Verkehr; wenn wir etwas wissen von dem wunderbaren Bau unseres Ohrs, wie es in seiner zarten Muschel die Schallwellen und Luftschwingungen aufnimmt, um sie durch seine kunstreich gewundenen Gänge und Treppen, Höhlungen und Zellen den Nerven, dem Gehirn, der Seele zuzuführen, - dann, meine Lieben, müssen wir darüber schon dankbar einstimmen in das Bekenntnis: Lobe den Herren, der künstlich und fein dich bereitet! und müssen bewundernd es dem Schöpfer bezeugen: „Der Herr hat alles wohlgemacht!“

Aber, meine Lieben, es gibt noch ein anderes Ohr, als das äußere des Leibes, welches uns Kunde bringt von der Welt um uns her, das ist das innere Ohr des Geistes, durch das wir in Verkehr treten mit der Welt über uns, durch das Gott mit uns redet.

Auch dies innere Ohr hat uns der Schöpfer eingepflanzt, da er uns schuf nach seinem Bilde und noch allezeit, was er uns Ernstes oder Tröstliches zu sagen hat, wir vernehmen's durch dies innere Ohr.

Wenn durch die Abendkühle im Garten Eden an die gefallenen Menschen der ernste Ruf des heiligen Gottes erging: Adam, wo bist du? - wenn ein Prophet oder sonst ein Gottesmann des alten Bundes auf die Stimme des Herrn antwortete: Rede, Herr, dein Knecht hört; wenn David im Bußpsalm fleht: Lass mich hören Freude und Wonne, dass die Gebeine fröhlich werden, die du zerschlagen hast; und wenn heute ein Mensch in seinem Gewissen die warnende und mahnende, die strafende oder tröstende Stimme Gottes vernimmt, da handelt sichs um dieses innere Ohr, um dies geistliche Gehör.

Aber ist es denn auch offen bei uns allen? Gibt es nicht viele, von denen auch heute gilt, was der Herr im alten Bunde schon klagt: Mit hörenden Ohren hören sie nicht; viele, die ein ganz gutes Gehör haben für die Welt um sie her mit dem Lärm ihrer Ereignisse, mit dem Geräusch ihrer Zerstreuungen, mit der Musik ihrer Vergnügungen, mit dem Lockruf ihrer Versuchungen; aber für die Stimmen von oben, für die Warnungen ihres Gewissens, für die Mahnungen und Tröstungen ihres Gottes sind sie taub; entweder sie wollen gar nichts von ihm hören und weichen ihm aus, wo sie können, oder sie hören sein Wort nur mit dem äußeren Ohr, aber ins Innere, ins Herz und Gewissen dringt es nicht ein, ihr Geist ist abwesend und ihr Herz ist ferne von Gott.

Wer ist es, der da der Menschheit ihr Gewissen wieder geweckt und ihr Verständnis wieder geöffnet hat und der noch allezeit einem Menschen das Ohr des Geistes auftun kann für die Stimme seines Gottes? Es ist der, von welchem das Volk im Evangelium bewundernd ausrief: Die Tauben macht er hörend; der, welcher dem zweifelnden Täufer ins Gefängnis sagen ließ: Die Tauben hören und den Armen wird das Evangelium gepredigt, und welcher dem Taubstummen das Ohr berührte mit dem Zuruf: Hephatha, tue dich auf!

Er tut immer noch an tauben Seelen die Wunder seiner Macht und Weisheit und Liebe.

Wie er dort den Tauben vom Volk besonders nahm, weg aus dem Volksgewühl und Menschengedräng in die Stille, damit er sich ihm besser verständlich machen könne, so nimmt er auch heute noch gern eine Seele besonders, aus dem Gedräng in die Einsamkeit, aus dem Geräusch in die Stille in die Stille des Gotteshauses oder einer schlaflosen Nachtstunde oder eines Krankenlagers, darauf er den Menschen legt, oder eines Friedhofes, wo er an ein offenes Grab uns stellt, um uns die Ohren zu öffnen für die Stimme von oben.

Da rührt er dann auch uns gleichsam das Ohr an mit seinem göttlichen Finger und deutet uns gen Himmel mit seinem heiligen Blick; zeigt uns, wo unser Gebrechen sitzt und woher unsere Hilfe kommen muss; mahnt uns: Siehe, bisher warst du taub am inwendigen Menschen, taub für die Stimme deines Gottes.

Und wenn dann in einer gesegneten Gnadenstunde einem Menschen das Ohr und Herz aufgeht für Gottes Wort; wenn ein Mensch, der bisher den Schlaf der Sicherheit geschlafen hat, aufgeweckt wird aus seinem Schlummer, wie der junge Samuel zu Siloh, da ihn der Herr in stiller Nacht dreimal bei Namen rief, bis er aufstand und sprach: Rede, Herr, dein Knecht hört! oder wenn ein verirrter Sünder auf seinen verkehrten Wegen das Donnerwort von oben vernimmt: Saul, Saul, was verfolgst du mich? und seinem Gott und Heiland zu Füßen fällt mit der Frage: Herr, was willst du, dass ich tun soll? oder wenn eine heilsbegierige Seele ganz Ohr ist für das göttliche Wort und selig in ihrer Andacht die Welt um sich her vergisst, wie Maria, da sie zu Jesu Füßen saß; oder wenn ein denkender Christ je tiefer er gräbt in Gottes Wort, um so gewichtigere Schätze hebt und mit dem Apostel bekennt: 0 welch eine Tiefe des Reichtums, beide der Weisheit und der Erkenntnis Gottes; oder wenn ein betrübtes Herz den Tröstungen des Herrn sich öffnet und es empfinden darf: Sein Geist spricht meinem Geiste manch süßes Trostwort zu! - seht, meine Lieben, da hat der Herr auch sein Hephatha gesprochen, da hat er auch ein Gnadenwunder getan wie dort an dem Tauben im Evangelium, ja noch ein seligeres, denn er hat nicht nur leiblich, sondern geistlich geholfen; da darf es auch die gerettete Seele dankbar erkennen und müssen's die, welche eine solche Umwandlung mitansehen, bewundernd bezeugen: Er hat alles wohlgemacht; die Tauben macht er hörend.

Möchten auch wir's alle noch an uns erfahren: Die Tauben macht er hörend; dann dürften auch wir's je mehr und mehr rühmen:

O wie selig, wer dich hört, wer von dir will sein gelehrt,
Wer zu jeder Zeit und Stund schaut auf deinen treuen Mund!

Und dann würde auch uns selber der Mund aufgehen zum Lobe des Herrn, dass auch das andere sich an uns erfüllte:

2) Die Sprachlosen macht er redend.

Schon die natürliche Sprache: welch eine wunderbare Mitgabe vom allmächtigen Schöpfer, welch ein köstliches Erbgut des Menschen; unser Vorzug vor allen Kreaturen auf Erden, die Begleiterin unserer Vernunft, die Dolmetscherin unserer innersten Gedanken und Gesinnungen, die Mittlerin zwischen Mensch und Mensch, die Trägerin aller edlen Künste und Wissenschaften, die Trösterin in tausend Trübsalen und Nöten.

Ein sprachloser Mensch, ein armer Stummer oder Taubstummer, dem seine Zunge gebunden ist, der seine Gedanken und Gefühle, seine Klagen und Bitten, seine Schmerzen und Freuden zurückdrängen muss ins enge dumpfe Herz, dass es ihm oft fast springen möchte; der nur mit flehentlichen Blicken, mit tierischen Lauten, mit unbehilflichen Gebärden andeuten kann, was er auf dem Herzen hat, welch kläglicher Anblick, welch bemitleidenswerter Zustand!

Wie ist man gerade heutzutag bemüht, die Schätze der Sprache zu heben, die Sprachen der Völker zu erforschen, in ihrem Ursprung und in ihrer Entwicklung, in ihrer Verwandtschaft untereinander und in ihrem Zusammenhang mit der Geschichte der Nationen zu erkennen, und wie muss man auch da bei so mancher neuen Entdeckung auf diesem Gebiet es erkennen und bekennen: Gott hat es alles wohlgemacht und alle Sprachen der Völker, jede in ihrer Art, tun seine Ehre kund.

Aber tust auch du, lieber Christ, in deiner Art Gottes Ehre kund, oder ist auch da erst ein Hephatha nötig, damit das „Band deiner Zunge los“ werde und du „recht redest“, wie es einem Christen geziemt, deine Sprache brauchst zur Ehre deines Gottes?

Liebe Freunde, man kann ja eine redselige Zunge haben im Umgang mit den Menschen und doch stumm sein gegenüber von Gott. Man kann mehr als eine Sprache geläufig sprechen und doch nichts verstehen von der Sprache der Kinder Gottes, doch keinen Laut auf den Lippen und keine Stimme in der Brust haben zur Ehre Gottes, weder zur frommen Anrufung, noch zum freudigen Bekenntnis seines Namens.

Wieviel tausend sogenannte Christen leben in unserer Stadt, deren Stimme nie dabei ist, wenn die Gesänge und Gebete der Gemeinde laut werden im Hause Gottes, da man hört die Stimme des Dankens! Wie manches Haus steht in unseren Straßen, wo nie gebetet wird, weder mit den Lippen noch mit den Herzen, weder am Sonntag noch am Werktag, weder am Morgen noch am Mittag noch am Abend, weder am frohen Tag noch in der bösen Zeit. Wie mancher Mann heutzutag würde es für eine Schande halten, Gott die Ehre zu geben in einem kindlichen Gebet, sei es zur guten Stunde mit einem herzlichen: Gott sei Dank, oder in der Not mit einem demütigen: O Herr, hilf!

Und wenn du auch zu diesen Sprachlosen nicht gehörst, wenn du auch fleißig bist mit Gott zu reden im Gebet, bist du nicht vielleicht stumm, wo es gilt, von Gott und für Gott zu reden vor den Menschen und seinen Namen zu bekennen - nicht nur hier in seinem Haus, sondern auch draußen in der Welt?

Es gibt ja wohl auch ein eitles Reden und Rühmen von Gott und göttlichen Dingen. Und wenn der Herr selbst in unserem Evangelium den Leuten verbot, sie sollten's niemand sagen, was sie so eben von ihm gesehen, so mag uns das eine Mahnung sein: Hütet eure Zungen vor selbstgefälligem Rühmen der empfangenen Gnaden und vollends vor heuchlerischem Herr, Herr sagen und geistlosem frommem Geschwätz.

Aber sollten wir darum stumm sein gegen unseren Gott und für unseren Gott? Nein - Hephatha, tue dich auf, stummer Mund, rege dich, träge Zunge, zur Anrufung deines Gottes und zum Bekenntnis seines Namens!

Und wenn nun ein Mensch das lernt; wenn ihm das Herz und mit dem Herzen der Mund aufgeht vor Gott; einem verstockten Sünder, der lange seine Schuld leugnete und seinen inneren Jammer verbirgt vor Gott und Welt, endlich das harte Herz bricht und der stolze Mund übergeht, dass er mit dem Psalmisten spricht (Ps. 32): Da ichs wollte verschweigen, verschmachteten meine Gebeine durch mein täglich Heulen; darum bekenne ich meine Sünde und verhehle Missetat nicht; - oder wenn einen stolzen Mann, der es für eine Schande gehalten hat, Gott anzurufen, endlich, da ihm das Wasser an die Seele geht, die Not beten lehrt, oder wenn ein Undankbarer an einem Freudentag, da ihm und seinem Hause Heil widerfahren ist, von der Güte Gottes überwältigt, sich hergibt zu einem kindlichen: Lobe den Herrn, meine Seele; oder wenn ein trotziger Saulus, der zuvor ein Schmäher und Lästerer und Verfolger war, angefasst, niedergeworfen, umgewandelt durch die Gnade Gottes, zu einem Paulus wird, der da spricht: Mir ist Barmherzigkeit widerfahren; ich glaube, darum rede ich; oder wenn ein lauer, mattherziger Christ, dem zuvor Menschenfurcht und Menschengefälligkeit den Mund verschloss zum Bekenntnis seines Gottes und Heilandes, ergriffen vom Geiste des Herrn, sich ein Herz fasst zu einem mannhaften Zeugnis, dass er mit Petrus spricht: Wir können's ja nicht lassen, dass wir nicht reden sollten, was wir gesehen und gehört haben; oder wenn ein bekehrter Christ, der zuvor seine Zunge, dies kleine Glied voll tödlichen Gifts, täglich missbraucht hatte zu faulem Geschwätz oder zu Zank und Streit oder zu Lug und Trug, nun in der Schule seines Heilands „recht reden“ lernt, wie es einem Christen geziemt, reden, was zum Frieden untereinander und was zur Besserung dient, reden also, dass es holdselig sei zu hören; seht, von diesen allen gilt's: „Und das Band seiner Zunge ward los und redete recht“; ihnen allen hat der Herr sein „Hephatha“ zugerufen; über ihnen allen dürfen wir seine Macht und Weisheit und Gnade preisen mit dem Bekenntnis: Er hat alles wohlgemacht; die Tauben macht er hörend und die Sprachlosen redend. Möchte das auch an uns allen wahr werden, eh unser Ohr sich für immer schließt und unser Mund im Tode verstummt, dann, meine Lieben, wird droben unser Ohr sich erst recht auftun für die Harmonien des Himmels und unser Mund sich recht öffnen, dass wir mit neuen Zungen bekennen:

Gott hat es alles wohlgemacht
Und alles, alles recht bedacht,
Gebt unsrem Gott die Ehre!

Amen.

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