Funcke, Otto - Tägliche Andachten – Montag nach Invocavit bis Reminiscere

Funcke, Otto - Tägliche Andachten – Montag nach Invocavit bis Reminiscere

Montag nach Invocavit.

Jerusalem, Jerusalem, die du tötest die Propheten, und steinigst, die zu dir gesandt sind! Wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen, wie eine Henne versammelt ihre Küchlein unter ihre Flügel, und ihr habt nicht gewollt.
Matth. 23,37.

Die Menschen, die „über ihre Zeit erhaben“ sind, heißen deswegen so, weil sie ein Geistesleben in sich tragen, vermöge dessen sie höher stehen, weiter und tiefer sehen, wie die Leute ihres Geschlechts. Wie die Bewohner stolzer, weit ausschauender Bergeshöhen das Grauen des Tages viel früher beobachten wie die Leute im Tal, wie sie schon im lustigen Sonnenschein wandeln, während über der Tiefe noch Nacht und Finsternis lagern, - wie sie auch, (da sie über den ganzen Himmel oben und das Tiefland unten freien Überblick haben,) die Entwicklung des ganzen kommenden Tages bestimmen und künden können, nicht anders ist es auf dem Gebiet des Geistes. Die Männer, die auf der Höhe ihrer Zeit stehen, sind ihren Landsleuten oft um Jahrhunderte voraus. Aber eben deswegen waren sie nicht „zeitgemäß“. Es ist immer ein undankbares Geschäft gewesen, neue Wahrheiten zu verkündigen, zumal wenn diese neuen Wahrheiten den Leuten ihren alten Weisheitskram über den Haufen warfen. Die große Menge hasst Den, der sie belehrt, denn es ist demütigend, sich belehren lassen zu müssen. Leute wie Sokrates, Galilei, Columbus sind als Atheisten, Revolutionäre oder Narren verfolgt und verlacht worden Die Nachwelt erst baute ihnen Triumphbogen und übertünchte ihre Grabsteine. (Matth. 23,29-32; Lukas 11,47-51.)

Noch übler aber musste es Denen ergehen, die auf der allerhöchsten Höhe standen, indem sie durch den Glauben mit Gott wandelten und von Ihm der höchsten Offenbarungen gewürdigt wurden. Sie schauten von ferne und sie verkündigten die seligste Zukunft des Menschengeschlechts; aber sie schauten auch tiefer als alle Anderen hinein in das Verderben der Welt und predigten darum alle von dem Weg der Buße und des Selbstgerichtes. Ihnen ging es am schlimmsten. Denn wenn die Menschen es schon übel vermerken, wenn man sie ihrer Unwissenheit überführt, so verzeihen sie es Einem erst recht nicht, wenn man ihnen ihre sittlichen Schäden vor Augen stellt. „Jerusalem, Jerusalem, die du tötest die Propheten!“ klagt Jesus. Freilich, dies Jerusalem, dieses Israel, das der Herr hier verklagt, es rühmte sich jetzt seiner Propheten, es baute und schmückte ihre Gräber, es bildete sich ein mit dem Geist der alten Prophetenmörder keinerlei Verwandtschaft zu haben. Und doch waren sie eben jetzt im Begriff, den höchsten Propheten, Den, auf den alle Andern, Abel, Henoch, Noah, Moses, Jesaja, Jeremias, Elias - anbetend hingewiesen hatten, in das bitterste Todesleiden zu schleppen. Jesus weiß, was ihm bevorsteht, und er findet es natürlich, dass es so geht wie es geht. Wenn er sagt: Vergebens habe ich euch versammeln wollen; ich wollte, aber ihr wolltet nicht, so weiß Er, dass sich dieses Nicht-Wollen zum neuen Prophetenmord gestalten wird.

Und heute? Nun heute baut man Jesu Monumente, wie man in den Tagen Jesu dem Mose, Jeremias und Sacharjas, die man zu ihrer Zeit zertreten hatte, Grabmäler baute. Heute muss Christus des Kaisers Freund sein, der Sozialisten Freund, der Hohenpriester Freund, der Puritaner, der Hochkirchler, der Liberalen Freund, sogar der Reform-Juden Freund. Denn jede Partei stutzt und putzt so lange an ihm herum, bis er ihr Mann ist. Er ist in der Mode.

Aber wie möchte es auch heute dem wirklichen Christus, Ihm, den man seiner Zeit an's Kreuz schlug, ergehen? Warum schlug man ihn denn an's Kreuz? Nun, weil er die Wahrheit zeugte, die da lebendig macht, aber vorher tötet; weil er keinen anderen Weg zu Heil und Leben gelten lassen wollte als den, der durch die Tiefen der Wiedergeburt, durch die bitteren Schmerzen der Natur-Kreuzigung hindurchgeht. Und will denn der große Haufe unter Vornehmen und Geringen heute davon etwas wissen und hören? Klein ist die Zahl der Wahrheitsfreunde. Darum, wer die heilige Wahrheit bezeugt, - so bezeugt, dass sie in die Gewissen einschlägt, darf sich auch im neunzehnten Jahrhundert nach Christo nicht befremden lassen, wenn Schmach ihn trifft. Es ist stellenweise schon schlimm genug damit, es wird aber noch ärger werden. Aber die Zeugen Christi sollen dadurch nicht beirrt werden. Wir haben gesehen, dass sie in guter Gesellschaft sind. Sie sollen nur das Eine sorgen, dass Werk und Wandel verklären, was mit Worten bezeugt wird.

Aber ach, was schauen wir auf die „böse, gottlose Welt“? Viel nötiger ist, dass wir uns selbst alle Tage das Wort Jesu vorbuchstabieren: „Selig ist, wer sich nicht an mir ärgert!“ Nicht wahr? die Kreuzeswege, die Christus für uns ging, ließen wir uns schon gefallen; aber die inneren und äußeren Kreuzeswege, die er uns führt, die passen uns nicht? Da fließt manche bittere Träne, ehe wir auch nur etlicher Maßen so weit kommen, dass wir seine Wege lassen unseren Augen wohlgefallen. Aber der Herr ist treu und führt's durch; wenn es nur von uns heißt: „Ihr habt gewollt“.

Es kostet viel, ein Christ zu sein
Und nach dem Sinn des reinen Geistes leben;
Denn der Natur geht es gar sauer ein,
Sich immerdar in Christi Tod zu geben.
Doch führt die Gnade selbst zu aller Zeit
Den schweren Streit.

Dienstag nach Invocavit.

Von der Zeit an fing Jesus an, und zeigte seinen Jüngern, wie er müsste hin gen Jerusalem gehen, und viel leiden von den Ältesten, und Hohenpriestern, und Schriftgelehrten, und, getötet werden, und am dritten Tag auferstehen.
Matth. 16,21.

Es war gewiss nicht die geringste Bitterkeit in dem Leidenskelch unseres Heilandes, dass Er, wie unser Text zeigt, schon ziemlich lange Zeit vor dem Tod genau wusste, welche Leiden und Schmerzen Ihm bevorstanden. Man denke sich dahinein, wie schwer das war, mit einem Volk zu verkehren, davon Er doch mit Bestimmtheit wusste, es wird mich schließlich, trotz aller meiner Wohltaten, verächtlich von sich stoßen, mit Füßen treten, in den bittersten Tod hineinstürzen, - es wird nicht ruhen, bis es mich am Kreuz bluten sieht. Wie schwer war es doch auch, den Jüngern sein ganzes Herz aufzutun, da Er doch musste, wenn's erst drauf ankommt, wird keiner von allen dich verstehen, Keiner wird bei dir aushalten, Alle werden sich an dir ärgern, ja Einer wird sich vor aller Welt von dir lossagen, - gar nicht zu reden von Dem, der dich um elendes Geld verkaufen wird in die Hände der Feinde; - das Alles wissen und nun doch lieben, innigste Gemeinschaft pflegen, nie verstimmt, nie verbittert sein; o denkt euch das, wie groß, wie schwer! - Denkt euch das: Sein eigen blutig Kreuz und die schmählichste Behandlung und Misshandlung klar vor Augen zu haben und doch nicht an sich selber denken, nicht zagen, klagen, nicht die Seele darin haften lassen, sondern immer nur lieben und wieder lieben, nur Heilandsgedanken haben, nur Heilandsarbeit tun! - o, das war nur dem heiligen, vollkommenen Jesus möglich, und es wäre auch ihm nicht möglich gewesen, wenn er nicht hinter dem Kreuz die Auferstehung und die Himmelerhebung, wenn Er nicht, ob auch in weiter Ferne, hinter dem „kreuzige“ rufenden Volk ein Erbarmen flehendes, wenn er nicht die fliehenden Jünger in der Ferne als kampfesfreudige und leidensfreudige Evangelisten geschaut hätte, vor Allem, wenn er nicht gewusst hätte, dass auch inmitten der tiefsten Nöte und Dunkelheiten Er dennoch nicht allein, sondern dass der Vater bei ihm sei und Alles regiere nach seinem Liebeswillen. Ohne dies Alles wäre auch für Jesum die deutliche Erkenntnis seines bevorstehenden Leidens vernichtend gewesen.

Es ist eine Gnade von Gott, dass unsere bevorstehende Lebenszeit im Dunkel liegt, - eine Gnade von Gott, dass Er uns den Gefallen nicht tut, den Schleier wegzuziehen, wenn wir (und wir sind oft so närrisch!) in die Zukunft hineinlugen möchten. Wie würden wir zum Beispiel alle Kraft und Freudigkeit in unserem Beruf verlieren, wenn wir im Voraus wüssten, dass schließlich all' unser Wirken und Kämpfen ganz und gar ohne Erfolg sein. würde. Umgekehrt, wie würde es einem Menschen, der etwa seiner Zeit zu großem Glanz und Ehren kommen soll, - wie würde es ihm leicht den Kopf und das Herz schwindlig machen, wie würde es ihm leicht den Geschmack an dem Alltäglichen, Kleinen und Geringen rauben, wenn er seine Erhöhung schon lange voraus sähe? Oder aber, würden wir wohl noch eine frohe und stille Stunde haben, wenn wir die mancherlei kleinen und großen Leiden und Schmerzen, die uns noch bevorstehen, jetzt schon vor Augen hätten? - Ein weiser Arzt wird von einer schmerzlichen Operation nicht eher sprechen, bis sie auch bald geschehen kann; denn er weiß, dass die durch die Phantasie ausgemalten Ängste und Qualen, die der Operation vorhergehen, schlimmer sind wie diese selbst. Kurzum, durch Vorherwissen der Einzelheiten, oder auch nur einer Reihe wichtiger Ereignisse in unserer Zukunft, würde die Willenskraft, Tatkraft, Spannkraft, Wirklust und Freudigkeit unserer Seele gelähmt werden; wir würden leicht über der Zukunft die Gegenwart verlieren.

Aber gar nichts zu wissen von der Zukunft, ist doch eben so schrecklich wie Alles zu wissen. Wir verstehen nicht, wie Menschen, die nur von einem „Spielen des Zufalls“, „von einem blinden Schicksal“ oder von „unerbittlichen Naturgesetzen“ zu reden wissen, - die nichts wissen oder gar nichts wissen wollen von dem lebendigen, persönlichen Gott, der die vollkommene Liebe und Weisheit ist, der mit weiser Vorsehung das Kleine und Große in unserer Gegenwart und Zukunft also regiert, dass unsere ewige und vollkommene Beseligung damit angebahnt werde, - wir verstehen nicht, wie diese, die den persönlichen Gott nicht kennen, innerlich still und froh werden können. Wir können es verstehen, wenn sie darüber aus sind durch Zerstreuung und allerlei Sinnentaumel sich gleichsam geistig zu berauschen.

Wir können es auch verstehen, wie sie, um doch etwas Licht in die finstere Zukunft zu bringen, auch vor den gemeinsten und widerwärtigsten Mitteln nicht zurückschrecken. So finden wir denn auch grade da, wo der Unglaube herrscht, zugleich den Aberglauben, als da sind Wahrsagerei, Totenbeschwören, Geisterklopfen und dergleichen, im höchsten Flor. Das ist nicht zu verwundern, denn der Mensch will doch irgendwelches Fundament haben, von dem aus er arbeitet, strebt und wirkt. Für den wahren Christen ist, (wie es auch bei Jesu war,) dieses tröstliche Fundament damit gegeben, dass er weiß, in der Zukunft ist auch mein Gott, mein Vater; was sie auch bringen wird, an jedem Ort, in jeder Stunde ist Er mit all seiner Liebe, Weisheit und Erbarmung. Was auch der kommende Tag bringen möge, es muss mir unter seiner Liebeshand Alles nur dazu dienen, dass seine Friedensgedanken in mir zu Wahrheit und Wesen kommen.

So führst du doch recht selig, Herr, die Deinen,
Ja, selig und Doch meistens wunderlich!
Wie könntest du es böse mit uns meinen,
Da deine Treu' nicht kann verleugnen sich?
Die Wege sind oft krumm und doch gerad,
Darauf du lässt die Kinder zu dir gehn.
Da pflegt es wunderseltsam auszusehn;
Doch triumphiert zuletzt dein hoher Rat.

Mittwoch nach Invocavit.

Wir gingen alle in der Irre wie Schafe.
Jesaias 53,6.

Wir kennen Alle das großartige Kapitel, daraus dieses Wort entnommen ist. Wir haben diese Rede von dem Knechte Jehova's, der die Sünde der Welt trägt und durch dessen Wunden wir heil geworden sind, oft gehört. Wie dunkel nun auch immer dieses Wort sein mag, - man ließe sich's doch gefallen, da es so tröstlich lautet. Aber sehr widerlich ist dem natürlichen Menschen das harte Urteil, das bei dieser Gelegenheit über die menschliche Natur und Art gefällt wird. Und doch, wer sich des Kreuzes Christi getrösten, von seiner eigenen Verlorenheit nichts wissen will, der ist ein Narr. Es ist nichts wie eine selbstbetrügerische Lüge, dass das Kreuz Christi nur trösten will. Nein, zunächst sollen wir erkennen, wie wir von Haus aus sind, nämlich Geschöpfe, die dem göttlichen Lieben und Leben total entfremdet sind. Nur in dem Maß, wie wir vor unseren Augen im Wert sinken, nur in dem Maß wird uns das Auge klar, um die Herrlichkeit und den Trost des Kreuzes Christi zu erkennen.

Das leuchtet uns freilich schwer ein, weil es uns schlecht passt. Der Prophet wusste das; darum stellt er an den Anfang seiner Predigt die klagende Frage: „Wer glaubt unserer Predigt?“ Nichts desto weniger hat er sie gehalten, denn er hat gewusst, dass schließlich, trotz allen Protestes, die Ehrlichen ihr zufallen würden.

Er behauptet also: Wir Alle - Alle! - gingen in der Irre wie Schafe. Er redet aber nicht von einem tief gesunkenen Geschlecht der Vergangenheit, nein, er redet von dem Menschengeschlecht, wie es war, wie es ist und wie es sein wird, solange und soweit es ohne Erkenntnis des gottgesandten Mittlers ist.

Er sagt also (in der Sprache, wie man zu einem Hirtenvolk redet): Die Menschen, so lange sie ohne das Leben Christi sind, gehen in der Irre, verstreuten Schafen gleich, und das gilt von uns Allen. Wie groß auch die Unterschiede der Nationen, der Stände, der Bildungsstufen sind, - ohne Barmherzigkeit bringt er uns Alle in diese Kategorie.

„Schafe, die in der Irre geben!“ das ist ja ein beleidigender Vergleich, das ist ein Angriff auf die Ehre des menschlichen Geschlechts, - sagst du. Ja wohl, wir wollen uns das auch nicht gefallen lassen, wenn wir's abschütteln können. „Schafe die in der Irre gehen,“ - das sind Schafe, die dem Hirten entlaufen, die deshalb schutzlos tausend Gefahren ausgesetzt sind, die von der rechten Weide und Quelle abgekommen sind, die von einem Futter sich nähren, das ihrer unwürdig ist, die ein Wasser trinken, was unrein und schmutzig ist, falls sie nicht gar verschmachten und verdursten; Schafe, die in der Irre gehen, das sind endlich solche, die nicht nur von den Hirten, sondern auch von einander abgekommen sind und ihren Weg gehen jedes für sich.

Nicht wahr, das ist ein trostloses Bild? Der Prophet aber würde alle diese Konsequenzen unterschreiben. ja wohl, würde er sagen, gerade so meine ich's: Die Menschheit ist losgerissen von Gott, damit hat sie ihre wahre Leitung, Weg und Ziel verloren; sie ist damit von der rechten Nahrung des Geistes abgekommen und verkümmert, sie ist unter sich selbst zerrissen, es fehlt die rechte Gemeinschaft und Einheit der Liebe; Hass und Zerrissenheit, Neid und Zwietracht, Eifersucht und Feindschaft sind an die Stelle getreten.

In der Tat, das ist keine schmeichelhafte Rede! Aber ich beschwöre euch, lasst uns nicht darüber aus sein uns selbst zu rechtfertigen und rein zu brennen, darin sind wir nur zu klug; lasst uns nicht widerstreben dem göttlichen Zeugnis, sondern in den Staub schauen und sagen: „Es ist so! Es ist so!“ Die Besten, das heißt Diejenigen, die sich selber am besten erkannt haben und die deshalb auch das Menschengeschlecht am besten erkannt haben, die werden sprechen: „Es ist so!“ Die, die in Jesu den Ankergrund ihrer Seele gefunden haben, die wissen, was das ist: „in Jesu Frieden haben;“ Die, die an sich selbst etwas davon erfahren haben, was Bekehrung ist; (ich meine also nicht, dass sie Heilige geworden sind, aber dass es ihre höchste Sehnsucht und Arbeit ist, durch Jesum zu göttlicher Heiligkeit und Lebensherrlichkeit zu gelangen,) grade die werden sagen: „Es ist so!“ Grade diese, die in der Heimkehr begriffen sind, die wieder ein klares lichtes Ziel vor Augen und einen treuen Hirten hinter sich haben, sie werden bekennen: „O wie war doch vorher unser Leben so zerfahren, so haltlos, so ziellos! In der Tat, jetzt erst sehen wir es mit Schaudern, wie sofern wir waren von Gott, wie unser Leben doch so gar von Gott los war.“

Sie grade werden sagen: „Wie arm, wie leer war doch unser Leben im tiefsten Grunde, wie entsetzlich unbefriedigt und hohl trotz aller Freuden und Genüsse!“ Ja grade diese, die sich selbst erkannt haben, werden zugeben, dass sie auch in Anbetracht ihrer Erkenntnis sogar in der Irre gingen trotz allen Wissens, trotz aller Bildung, - in den höchsten, wichtigsten Fragen waren sie doch vollkommen blind. Wozu wir da seien auf dieser Welt? diese nächstliegende Frage (sagen sie) wussten wir nicht zu beantworten, oder wir gaben eine Antwort, die uns selbst nicht genügte. Wer wir selbst seien? war uns ein Rätsel! Wir waren uns selbst ein Geheimnis. Der erste Ursprung sowohl wie das letzte Ziel lagen uns in Finsternis. Der Tod war uns schauerlich und trostlos, und trostloser und schauerlicher noch, was dahinter lag. Wir hatten nicht den Mut daran zu denken; wir mochten uns das, was doch das Gewisseste von Allem war, nämlich, dass wir sterben müssten, gar nicht klar machen, denn wir kannten kein Licht über Tod und Ewigkeit.

O, lieber Leser, mache du dir das auch einmal recht klar, alsdann wird das dunkle Kreuz zu leuchten anfangen und du wirst bald leise mitsingen können: Jesu, meines Lebens Leben,
Jesu, meines Todes Tod,
Der du dich für mich gegeben
In die tiefste Seelennot,
In das äußerste Verderben,
Nur dass ich nicht möchte sterben;
Tausend, tausend Mal sei dir,
Liebster Jesu, Dank dafür.

Donnerstag nach Invocavit.

Ein Jeglicher sah auf seinen Weg.
Jesaja 53,6. Da seht in sechs Worten ein Bild der Selbstsucht, die der Verderb des Menschengeschlechts ist. Die in der Wüste verstreuten Schafe, sie denken ein jedes nur an sich, sorgen nur für sich, laufen jetzt ohne einander, jetzt wider einander, indem sie sich das bisschen Weide in der Wüste streitig machen. Ach, es ist ein harte Rede und doch leider eine wahre Rede, dass in dem Herzen des Menschen von Haus aus die Selbstsucht ihren Thron aufgeschlagen hat. Es gibt auch andere Triebe, edle Triebe der Menschenliebe, und in dem einen Menschen ist die Macht der Selbstsucht weitaus nicht so entwickelt, wie in dem anderen. Aber das, was im Ganzen herrscht auf Erden, was uns von Haus aus Alle beherrscht, das ist die Selbstsucht: „Ein jeglicher sieht auf seinen Weg“.

Ach, es ist gar betrübend, wenn man sich so darüber wieder und immer auf's Neue wieder betreffen muss, dass unsere Gedanken auf das liebe Ich hinlaufen. Ja, bei den Kleinen auf Der Kinderstube kann man's schon beobachten, wie ein jedes auf seinen Weg sieht, immer auf seinen Vorteil und Genuss sinnt und für sich zu erringen sucht, was es kann, sei es auch durch Schädigung und auf Kosten des eigenen Brüderleins oder Schwesterleins.

Und schauen wir einmal auf unser Volk und unsere Zeit im Ganzen. Man ist so stolz auf das Wissen, das man jetzt besitzt; und in der Tat, das Menschengeschlecht ist in der Erkenntnis der irdischen Dinge gewaltig fortgeschritten. Welche Eroberungen hat man nicht gemacht auf dem Gebiete der Wissenschaft, der Kunst, der Kultur und Industrie! Und wer sollte sich nicht darüber freuen? Ist es doch der göttliche Beruf des Menschengeschlechts, die Erde zu bauen und ihre schlummernden, verborgenen Kräfte zu wecken, zu heben und zu entbinden! Aber auf diese Weise wird dem Menschengeschlecht nicht bis in die Tiefe geholfen. Mag die Oberfläche des Lebens noch viel reicher werden: mögen Bildung und Wissen und allgemeiner Wohlstand mächtig zunehmen, mag das perpetuum mobile gefunden und die Nordpoldurchfahrt entdeckt sein, mag die allgemeine Bildung so fortschreiten, dass jeder Arbeiter auf dem Zimmerplatz über Physik und Verfassungskunde, über Kirchenpolitik und Ethnographie wie ein Buch zu reden weiß, - mag der Wohlstand so groß werden, dass dann jeder Tagelöhner die Bequemlichkeiten und Annehmlichkeiten genießt, deren sich jetzt der Kapitalist erfreut, ich nehme das alles einmal an und - und das innere Elend und die Zerrissenheit und der Unfriede der Menschheit wird dann nicht um ein Haar geringer sein; denn die Selbstsucht ist nach wie vor im Regiment; sie wird durch keine Kulturfortschritte überwunden! - Ach, dass man doch endlich aufhörte immer nur „Kultur und Bildung!! Kultur und Bildung!!“ zu schreien. Als ob durch das, was man gemeiniglich so nennt, nur das Gute und nicht auch das Böse gestärkt würde! Als ob nur die Tugend, nicht aber auch die Laster und Leidenschaften aus der Bildung ihre Nahrung sögen! Als ob nicht auch der Sozialismus, vor dem jetzt alle Welt zittert, grade ein Kind der modernen Bildung wäre! Nein, nein, daher kommt die wahre Hilfe und Rettung nicht.

Und doch gibt es eine Hilfe, und zwar eine sichere und vollkommene Hilfe! Nun, wo ist sie denn? Sie ist in Dem, von dem die Welt nichts wissen will und sich stolz abwendet, sie ist in Dem, über den hinweg die großen Wortführer und Werkführer unseres Geschlechts, gleichviel ob in der Bluse oder im Staatsrock, zur Tagesordnung übergehen, in Dem, von dem Jesaja sagt: „Er ist um unserer Missetat willen verwundet, die Strafe liegt auf Ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir heil geworden“.

Und wir Alle, Alle, gleichviel ob Kapitalisten oder Sozialisten, gleichviel ob Gelehrte oder Bauern, Priester oder Soldaten, wir Alle, Alle, die wir irre geben und auf unseren Weg sehen in der Wüste, wir Alle müssen es lernen auf Ihn sehen, müssen miteinander kommen, weinend, betend, vor seinem Kreuz zusammenbrechen und mit Einem Mund bekennen: „Wir, wir alle haben gesündigt und sind abgewichen von Dir: hier kommen wir Armen, suchend deine Gnade, deine Hilfe, dein Licht, deinen Frieden; schenk uns, o du Erbarmer, den Anblick deiner Gnad'!“

Ob unser Volk dahin kommen wird, durch den sanften Zug der Liebesstimme Gottes geleitet, - oder ob es erst dahin kommen wird, nachdem es durch furchtbare Trübsale, Blut-, Tränen- und Umsturz-Tage weich und klein und mürbe geworden ist, - das wissen wir nicht. Walte Gott, dass das Erstere geschehe. Aber dahin kommen wird's, dessen sind wir guter Zuversicht und dann wird auch die Rettung kommen; denn dann werden die Herzen der Menschen also gegeneinander gerichtet sein, wie sie sollen.

Christe, du Lamm Gottes,
Der du trägst die Sünd' der Welt,
Erbarm dich unser!

Christe, du Lamm Gottes,
Der du trägst die Sünd' der Welt,
Gib uns dein'n Frieden! Amen.

Freitag nach Invocavit.

Wir gingen alle in der Irre wie Schafe, ein Jeglicher sah auf seinen Weg; aber der Herr warf unser aller Sünde auf Ihn.
Jesaja 53,6.

Ist das nicht eine wunderbare Wendung, die mit diesem „aber“ geschieht? Wäre es nicht viel vernünftiger und logischer gewesen zu sagen: „Darum verwarf Gott dieses selbstsüchtige, dieses total verirrte Menschengeschlecht, welches ja doch gezeigt hatte, dass ihm nicht zu helfen sei? Er verwarf es und gab es dem Verderben Preis.“ In der Tat das wäre eine menschlich richtige Konsequenz gewesen. Wie aber sagt der Bote Gottes? „Wir gingen Alle in der Irre wie Schafe, ein jeglicher sah auf seinen Weg, aber - Jehova warf unser aller Sünde auf Ihn!“ auf Wen? Auf seinen vollkommenen Knecht, auf den Sohn seines Wohlgefallens.

O wunderbare göttliche Logik! O unergründliche göttliche Gerechtigkeit! „Ich kann's mit meinen Sinnen nicht erreichen, womit doch dein Erbarmen zu vergleichen.“ Jehova, der Heilige, nahm die Sünde der Unheiligen und warf sie auf Ihn, auf den Sündlosen, auf den einzigen Menschensohn, der sich nie verirrte und der darum der einzige vollkommene Menschensohn war; auf Ihn, der immer auf der grünen Gottesweide blieb, der es all' Tag und Stunde seines Lebens seine liebste Speise sein ließ, des Vaters willen zu tun, der Einzige, der nicht und niemals auf seinen Weg, sondern allein nach den Augen Gottes sah, der darum auch nur wirkte, sann, redete, arbeitete, duldete, was zum Leben seiner Mitmenschen dienen könnte, - auf Ihn warf Jehova unsere Sündenlast, dass Er sie tragen und abtun sollte auf ewig! Seht da: Er trägt unsere Krankheit und hat auf sich geladen unsere Schmerzen! Da Er gestraft und gemartert ward, tat Er seinen Mund nicht auf, wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird, und wie ein Schaf, das verstummt vor seinem Scherer und seinen Mund nicht auftut.

„O große Lieb', o Lieb' ohn' alle Maßen,
Die dich gebracht auf diese Marterstraßen;
Ich lebte mit der Welt in Lust und Freuden,
Und du musst leiden.“

Verstehen wir das? Nein, und abermal nein! Aber wir verstehen so viel, dass etwas geschehen musste, was über alles Verstehen der Menschen war, wenn den Menschen geholfen werden sollte. Fast alle Völker der Erde haben die Idee gehabt, dass es im innersten Heiligtum der Götter dunkel sein müsse. So war es auch dunkel im Allerheiligsten zu Jerusalem, wo Jehova über den Fittigen der Cherubim wohnte. Dunkel ist's auch der Natur der Sache nach, wenn wir an das Allerheiligste der christlichen Lehre hintreten. Wenn schon das, dass Gott geoffenbart wurde im Fleisch, ein gottseliges Geheimnis war, so ist der Versöhnungstod des fleischgewordenen Wortes das Geheimnisvollste in diesem Geheimnis. „Ich kann's mit meinen Sinnen nicht erreichen.“

Das aber verstehen wir mit den Edelsten und Besten aller Völker und aller Zeiten, dass der Mensch durch die Sünde das Band mit Gott zerrissen hat, dass er in sich selbst keine Macht hat, dieses Band wieder anzuknüpfen, dass eine Sühne seiner Sünde geschehen muss. Das sagt dem Menschen sein blutendes Gewissen; nicht minder aber, dass er selbst diese Sühne nicht leisten kann, dass alle seine Leistungen, Übungen und Opfer, wäre es auch all sein Geld und Hut, ja wäre es auch der eigene Leib und das eigene Blut, die geschehene Sünde nicht ungeschehen machen kann, - dass also der Mensch durch sich selbst nicht in die Gemeinschaft Gottes eintreten kann, nein, dass er ewig ferne bleibt, falls nicht Gott selbst eine Sühne der Sünde schafft. Und doch auch wieder verstehen wir, dass diese Sühne für die Menschheit nur durch einen Menschen geschehen konnte, dass also durch Gottes Wundergnade ein Mensch hergestellt werden muss, der heilig und rein und göttlich ist, der der Gottheit und der Menschheit gleich nahe verwandt ist.

Gewiss, hier bleibt des Geheimnisvollen noch viel. Aber der tiefsinnige Hamann hat mit Recht erinnert: „Lügen und Romane müssen wahrscheinlich sein, nicht aber die Wahrheit,“ sie muss nur gewissensmäßig sein. So ist's recht und wenn du selbst erst gewissensmäßig bist, wenn du erst aus deinem Gewissen vernommen hast, dass du eines Retters und Versöhners bedarfst, dann tritt unter Christi Kreuz und schaue Ihn an, den Heiligen, der blutend zwischen Erde und Himmel hängt; dann höre, was die Evangelisten von seinem Leiden und Sterben berichten, höre vornehmlich den siebenfachen Laut seines Mundes, höre wie sein heiliges Blut Tropfen auf Tropfen in den Staub dieser verunreinigten Erbe herniederfällt, - ja, dann sinne darüber, was das ist: „Der Herr warf unser Aller Sünde auf Ihn. Das Blut Jesu Christi macht uns rein von allen Sünden. Er ist die Versöhnung für unsere Sünden; nicht allein aber für unsere, sondern für die Sünden der ganzen Welt.“

Grübele nicht, disputiere, vernünftle nicht: wolle nicht das brausende, unergründliche Meer der Liebe Gottes mit dem Zollstöcklein deiner unreinen Menschenliebe ausmessen; - nein, fange damit an, dich selbst hier zu richten und zu schämen, Gott aber, deinen Gott und Erbarmer, anzubeten. So wird dir's licht werden.

Nun, was du, Herr, erduldet
Ist alles meine Last,
Ich hab' es selbst verschuldet,
Was du getragen hast;
Schau her, hier steh' ich Armer,
Der Zorn verdienet hat;
Gib mir, o mein Erbarmer,
Den Anblick deiner Gnad'!

Sonnabend nach Invocavit.

Jetzt ist meine Seele erschüttert. Und was soll ich sagen? Vater, rette mich aus dieser Stunde.
(Grundtext.) Johannis 12,27.

„Je mehr man die Menschen kennen lernt, desto mehr muss man sie verachten,“ so und ähnlich hört man oft sagen. Aber so sprechen nur die Pharisäer, die über der Erkenntnis der anderen Menschen die Erkenntnis des eigenen unliebenswürdigen Herzens versäumt haben. So viel ist freilich wahr, - wer die Menschen gründlich kennt, der ist vor Menschenvergötterung geschützt. Denn je genauer man sie ansieht, desto mehr findet man Selbstsucht, Schwäche, Unlauterkeit, unerwartete Untugend auch bei den Edelsten und Tugendhaftesten.

Grade umgekehrt ist es bei Jesu. Je schärfer und aufmerksamer wir seine innersten Herzensgedanken, seine tiefsten Seufzer, seine geheimsten Gefühls- und Willens-Regungen belauschen, (und, Ihm sei Preis, Er hat gesorgt, dass wir das können!) - umso lichter wird uns sein Bild, umso mehr entdecken wir, dass hier Alles heilig und hehr ist, umso mehr enthüllen sich uns hier Liebestiefen und Liebesabgründe, die wir besser anbeten als begreifen können.

Dies gilt auch insonderheit von der Stellung Jesu zu seiner Heiligen Passion. Er ist so barmherzig und holdselig gewesen, dass Er die Kämpfe und Ängste, die seine Seele bewegten, auch ausgesprochen hat. Er war nicht wie so mancher kalte Heros dieser Welt, der ängstlich besorgt ist, sich keine Blöße zu geben und keine Schwäche zu zeigen, und der sich dann innerlich verzehrt oder plötzlich in Verzweiflung zusammenbricht. Nein, Jesus war demütig genug, sein Grauen vor dem Leiden auszusprechen, uns zum starken Trost, auf dass wir in unseren Nöten wissen möchten: „Er versteht dich, Er ist nahe bei dir, Er kann Mitleiden mit dir haben und hilft dir“. Aber auch um seiner selbst willen spricht Er aus, was Ihn erschüttert, denn wer sich klar wird über seine Angst, Schwäche und Unklarheit, der ist schon auf dem Wege, davon erlöst zu werden.

Wer die Passionsgeschichte ohne Vorurteil liest, der muss sagen: „Ganz wie ein Mensch hat Jesus gefühlt, gekämpft, gelitten und überwunden, nur wie der reine, heilige Mensch, der überall Glauben gehalten und sich ohne Wanken, mit vollkommenem Gehorsam, dem Vater unterworfen hat, der überall, obgleich von der Menschheit mit Füßen getreten, die vollkommenste Liebe zur Menschheit bewahrt hat.“ (Ebr. 2,10.14; 4,6-8.) Dass Er durch Glauben und Gehorsam, durch fortwährendes Verzichten auf sich selbst, überwunden hat, das ist das Anbetungswürdige, das ist es, was deine und meine Seligkeit schafft, das ist es, was Ihn dir und mir zum Vorbild macht.

Höre nur, wie Er schon lange vor seinem Leiden, aus der Tiefe rufend, gleichsam nach Luft ringend, seufzt: „Wie bange ist mir, bis die Leidenstaufe vollendet werde!“ Und nun gar der Kampf in Gethsemane, wo Er, mit Blutschweiß bedeckt, auf seinem Angesicht im Staub liegt und einmal und wieder und zum dritten Mal beim Vater anfragt, ob es nicht möglich sei, dass der Kelch vorübergehe!

So nun auch hier. Eben hatte Jesus in hohem Tone jubiliert: „Jetzt ist die Stunde, dass des Menschen Sohn verklärt werde!“ (Joh. 12,23.) Die Griechen, die ihn sehnsuchtsvoll im Tempel suchten, erschienen ihm als Repräsentanten der heilsdurstigen Völkerwelt. Aber schnell schlägt seine Stimmung um; - denn auch Jesus kannte Stimmungen, Er ließ sie nur nie zu Verstimmungen werden! - schnell sank Er in tiefe Traurigkeit, als ihm vor die Seele trat, durch welche Schmerzensfluten Er noch hindurchschreiten müsse, ehe sein Licht den Nationen der Erde leuchten könne: „Jetzt ist meine Seele erschüttert! Und was soll ich sagen? Vater, rette mich aus dieser Stunde?“

Nicht wahr, hier, wie auch in Gethsemane, kam Jesus bis an die Grenze dessen, was dem Glauben erlaubt ist? Es will uns grauen, wenn wir denken, dass er diese Grenze überschritten: habe. Aber nein, es graut uns nicht, denn wir denken so nicht.

Nur zu früh haben wir erfahren, was für ein Ende alle diese Kämpfe genommen haben, ja die Meisten von uns sind wohl so gelehrt worden, als ob diese Anfechtungen selbstverständlich diesen Ausgang hätten nehmen müssen. Aber denke dir einmal, lieber Leser, einen Menschen, der einen heiligen Durst nach Gott, ein unendliches Verlangen nach Erlösung und Versöhnung in sich trüge, einen Menschen, der alle Weiten und Breiten der Erde durchforscht hätte, um einen Retter zu finden, und dem man sagen würde: „Höre, wir wollen dir von Einem erzählen, der wollte der Erlöser der Menschheit sein; ob er's aber gewesen ist, das sollst du selbst entscheiden“. Denke dir, wie man ihm das ganze Leben Jesu vor Augen gestellt hat, von der Krippe an, all' sein Reden, Lieben, Leiden, Wirken bis auf dieses Ereignis hier. Nun denke dir, in welche Spannung wird er kommen! Bis hierhin hat er durch jedes neue Wort, durch jeden neuen Bericht immer mehr die Überzeugung gewonnen: „Dieser ist's, dieser ist's allein, den muss ich haben, den suchte meine Seele und wusste es nicht!“ Und nun dies: „Meine Seele ist erschüttert! Was soll ich sagen? Vater, rette mich aus dieser Stunde?“ Meinst du nicht, dass dieser Mensch - ich meine nicht die Millionen mitten in der Christenheit, die keine Träne darüber vergießen würden, wenn sich das ganze Evangelium von Jesu als ein Trug erwiesen hätte, - ich meine nicht die Unzähligen, die nur dürsten nach Gold, Genuss, Ehre und Lust dieser Erde, - nein, ich meine diesen Einen, der da dürstet nach Versöhnung, nach Einigung und Gemeinschaft mit dem lebendigen Gott und der in Jesu den Versöhner und Mittler gefunden zu haben hoffte, - meinst du nicht, dass dieser Mensch bei diesem Bericht zusammenbrechen würde vor Angst und Entsetzen, und dass er endlich, wenn er wieder ein Wort finden könnte, zitternd und zagend fragen würde: „O, ich beschwöre euch, was hat Jesus weiter gesagt?“

Nun, was Er weiter gesagt hat, das wird uns zeigen, dass Er nicht im Glauben geschwankt, sondern nur dem tiefen Grauen seiner Natur Ausdruck gegeben hatte. Dass Er aber also hat klagen können, klagen, weinen, ringen müssen, um oben zu bleiben, - eben das soll dir Mut machen zu diesem Heiland, der da Fleisch ist von deinem Fleisch, und Bein von deinem Bein, und doch heilig und göttlich stark, dich mit seiner Allmachtshand aus allen Tiefen deines Jammers und deiner Sünde aufwärts zu führen, hin zu göttlicher Kindschaft und Ebenbildlichkeit, wenn du ihm nur willst - gehorsam sein.

Herr, lass dein bitter Leiden
Mich reizen für und für
Mit allem Ernst zu meiden
Die sündliche Begier;
Dass mir nie komme aus dem Sinn,
Wie viel es dich gekostet,
Dass ich erlöset bin.

Am Sonntag Reminiscere.

Vater, verkläre deinen Namen! - Da kam eine Stimme vom Himmel: Ich habe ihn verklärt, und will ihn abermal verklären.
Joh. 12,28.

Wie oft hört man solche Leidende, die durch leibliche Krankheit zu jahrelanger oder gar lebenslänglicher Untätigkeit verurteilt sind, wie oft hört man sie klagen: „Ach, ich bin zu nichts nütze in der Welt, kann nichts schaffen und muss mir nur überall helfen lassen; es wäre für die Meinigen viel besser, wenn ich aus dem Weg wäre“ usw. Wir verstehen vollständig diese Klagen, denn sie sind natürlich, aber doch auch nur natürlich. Vollends seit unser Heiland durch Leiden vollkommen gemacht ist, seit also das Größte auf Erden durch Leiden geschehen, sollten diese Klagen gänzlich verstummen! Wir wollen hier nur im Vorübergehen erwähnen, dass die Menschheit im Ganzen der Leidenden weniger entraten kann wie der „Glücklichen“ und der Triumphierenden, denn an Jenen sollen diese das lernen, was wichtiger ist als alle Erdenweisheit, nämlich demutsvolle Dankbarkeit gegen Gott, und ihren Nächsten gegenüber Dienen, Lieben, Mitleiden, Fußwaschen. Aber auch die Leidenden selbst sollen grade durch das Leiden der göttlichen Vollendung entgegengeführt, und wiederum durch das Leiden in Christi Sinn, Kraft und Nachfolge können sie auch Licht und Salz der Welt in höherem Grad werden, wie durch alles Wirken, Schaffen und Arbeiten.

O, wie viel mehr wahrer Segen und bleibende Freude ist von den Krankenstuben ausgegangen über große Familienkreis, als von den Speisesälen, gar nicht zu reden von den Tanzsälen! Wie oft wird die Krankenstube zum stillen Heiligtum, da nicht nur der Kranke, sondern auch die Pflegenden die Fußtritte Gottes rauschen hören! Wie oft hört man von Solchen, die lange gelitten haben, sagen: „Ei, wie haben der und die in ihrem Leiden wunderbare Fortschritte gemacht; es ist, als ob ihr inneres Leben durch und durch neu geworden wäre!“ Und sind nicht auch viele unter Denen, die jetzt dieses Blatt lesen, die es bekennen müssen, dass sie ohne ihre tiefen Trübsalswege das Herz ihres Gottes. schwerlich jemals gefunden hätten? Ja, wenn der Dichter sagt: „Es bildet ein Talent sich in der Stille, doch ein Charakter in dem Strom der Welt.“ so darf man, unbeschadet der Wahrheit dieses Wortes, hinzufügen, dass die höchste und gründlichste Charakterbildung nicht in den Stürmen, Kämpfen und Arbeiten des bewegten Weltlebens, sondern in dem stillen Ertragen schwerer Trübsal, im Dulden, Harren und Warten stattfindet. Denn hier bildet sich der Charakter, der für die Einwohnung Gottes, für die Einprägung seines Ebenbildes geschickt macht; vorausgesetzt eben, dass das Leiden in christus-ähnlicher Weise erlitten wird.

Was aber würdiges, heiliges, heiligendes Leiden sei, das müssen wir fort und fort an Jesu heiliger Passion studieren. Wenn ihm, wie wir im vorigen Aufsatz sahen, das Leiden so schwere Anfechtungen machte und so tiefe Seufzer auspresste, so wird uns schwachen Menschen der barmherzige Gott noch viel weniger verübeln, wenn uns das Leiden sehr sauer wird. Er wird manches geheime und offenbare Murren, manche Aufwallung und Aufbäumung unserer Natur und unserer Leidenschaften mitleidiger verrechnen wie viele Menschen, wenn wir nur schließlich wieder in die rechte Spur kommen.

Auch die Seele Jesu war erschüttert im Anblick seines Schmerzensweges. Auch Er fragte: „Was soll ich sagen? Vater, rette mich aus dieser Stunde?“ Aber kaum hat Er das Wort „Vater“. auf seine Lippen gebracht, so ist der innere Sturm gestillt. Vergessen, niedergekämpft ist alles Grauen der Natur, weggeschoben jeder Gedanke an sich selbst, nur ein Gedanke leuchtet noch hell in seiner Seele, alle Finsternis verzehrend: „Vater, verklare deinen Namen!“ Heraus aus dem brandenden Meer der Anfechtungen, Ängste, Schmerzen, Seufzer ringt sich diese eine Bitte, die sich bald in einen Triumphruf wandelt: „Vater, verkläre deinen Namen!“ In diesem einen Wort ist sein ganzes Herz, Leben, Lieben, Glauben, Hoffen, Wollen, Ahnen, Freuen, Leiden ausgesprochen. „Vater, verkläre deinen Namen!“ Das ist der Grundakkord, der durch sein ganzes Leben hindurch klingt und der am mächtigsten da tönte, wo er am schwersten musste errungen werden. Die heilige Sehnsucht, dass des Vaters Namen in der ganzen Menschheit und in Ihm selbst verklärt werde, das ist die Sonne, die alle finsteren Tale des Leidens Jesu erleuchtet, da er von unsäglichen Schmerzen des Leibes gequält, von den Mächten der Finsternis angefochten und umstürmt, von den Menschen verlassen, verleugnet, verraten, mit Füßen getreten, ja, von Gott selbst verlassen wird. Immer spricht Er zu seiner Seele: „Es muss also gehen, sonst ginge es nicht so! Der Vater will es so, also will ich es auch; dies Eine muss über Alles sein, dass deine großen Licht- und Lebens-Gedanken, o Vater, zu ihrem Ziel und zu ihrer Vollendung kommen; Vater, verkläre Deinen Namen!“

O, dass doch auch in all unserem Tun und Lassen, Arbeiten, Ruhen, Lieben, Leiden, Reden und Schweigen, in allen unseren Demütigungen und Erhöhungen, in Sturmesnächten und Lenzestagen, - dieser eine Gedanke uns beherrschen möchte: „Vater, verkläre deinen Namen in mir und durch mich und tilge Alles aus in mir, was solche Verklärung hindert!“ Ja, wenn wir auch nur aufrichtig streben und ringen wollten so beten zu können, wenn wir erst nur wollen wollten so wie Gott will, wenn wir erst nur wirklich sehen wollten, was Gott an uns nicht sehen will und kann, was nicht eingehen kann in sein Reich, - so würde uns geholfen werden! Wo erst diese eine Sehnsucht: „Vater, verkläre mich in dein Bild!“ all' unser anderweitiges Sehnen, Wünschen, Zittern, Jubilieren, Murren, Klagen beherrscht, - da werden wir, wie erbärmlich es auch sonst mit uns bestellt sein mag, da werden auch die Schwergeprüften mächtig erfahren Gottes Geduld, Trost und Nahesein, da werden auch sie über sich hören, was Jesus hörte: „Ich habe meinen Namen verklärt und will ihn ferner verklären in euch, bis ihr, als meine erlösten Kinder, in Herrlichkeit vor meinem Throne steht.“ Denn wer recht kämpft, der wird gekrönt.

Durchgekämpft und durchgerungen,
Bis zum Ziele durchgedrungen,
Muss es, matte Seele, sein;
Durch die tiefsten Dunkelheiten
Wird dich Jesus hingeleiten,
Mut flößt er den Schwachen ein.

Cookies helfen bei der Bereitstellung von Inhalten. Diese Website verwendet Cookies. Mit der Nutzung der Website erklären Sie sich damit einverstanden, dass Cookies auf Ihrem Computer gespeichert werden. Außerdem bestätigen Sie, dass Sie unsere Datenschutzerklärung gelesen und verstanden haben. Wenn Sie nicht einverstanden sind, verlassen Sie die Website.Weitere Information
autoren/f/funcke/funcke-taegliche_andachten/funcke_taegliche_andachten_woche_auf_reminiscere.txt · Zuletzt geändert: von 127.0.0.1
Public Domain Falls nicht anders bezeichnet, ist der Inhalt dieses Wikis unter der folgenden Lizenz veröffentlicht: Public Domain