Allgemeine Klage über das Verderben der gesammten Christenheit.
Gnade, Licht und Heil von Gott dem himmlischen Vater durch Christum Jesum in dem heiligen Geist, Allen denen, die den Herrn suchen.
Wenn wir mit christlichen und nur etwas erleuchteten Augen - nach unsers Erlösers Ermahnung, die Zeichen der Zeiten und deren Beschaffenheit zu beurtheilen - den jetzigen Zustand der gesammten Christenheit ansehen, so möchten wir billig mit Jeremias 9, 1 in die klagenden Worte ausbrechen: „Ach, daß wir Wassers genug hätten in unsern Häuptern, und unsere augen Thränenquellen wären, daß wir Tag und Nacht beweinen möchten den Jammer unsers Volks!“ Und hat zu den noch goldenen Zeiten jener liebe alte Vater sprechen mögen: „Ah, in quae nos tempora reservasti Domine!“1) „Ach, für welche Zeiten ahst du uns erhalten, Herr!“ so haben wir es heut zu Tage mit so viel mehrerem Fuge nicht nachzusprechen, sondern, wie wir mit der größten Betrübniß kaum Worte zu finden vermögen, nachzuseufzen.
Ich will jetzt nicht reden vonn den Gliedern der christlichen Kirche, welche noch nicht zu der Reinigkeit der Lehre gekommen sind, an deren Jammer ohne innige Bewegung von einer gottseligen Seele nicht gedacht werden kann; sondern bleiben wir nur allein bei unsrer evangelischen Kirche, welche das theure und reine Evangelium der äußeren Bekenntniß nach annimmt, in der wir also deswegen die wahre Kirche allein noch sichtbar erkennen müssen;; so können wir doch die Augen auf dieselbe nicht wenden, ohne sie nicht sogleich aus Betrübniß und Schaam wieder niederschlagen zu müssen. Denn sehen wir das Leibliche an, so müssen wir bekennen, daß die unsrer Kirche angehörigen Reiche und Lande, alle diejenigen Plagen oftmals erfahren haben, mit welchen nach der Schrift der gerechte Gott seinen Zorn zu bezeugen und anzudeuten pflegt. Ich halte aber solche Trübsal für die Geringste, ja für eine Wohlthat, dadurch Gott noch viele der Seinigen erhalten, und gewehret hat, daß der Schade nicht durch stetes leibliches Wohlergehen noch verzweifelter würde. Aber ungleich schwerer ist das geistliche Elend unsrer Kirche, und vornehmlich aus zwei Ursachen.
Die Eine besteht in den Verfolgungen (Beeinträchtigungen), welche die wahre Lehre, sonderlich von dem antichristischen Babel (Rom) erleiden muss. Nun ist zwar an dem, daß die Verfolgungen nicht weniger ein herrliches Mittel sind, dadurch der Kirche Wachsthum befördert wird, denn wir haben die christliche Kirche von den Zeiten der Apostel her, nie in besserem und vor Gott herrlichherem Stande angetroffen, als unter den grausamsten Verfolgungen, in denen ihr Gold unaufhörlich in dem Schmelzofen gelegen, dessen Flamme keine Schlacken daran wachsen lassen, oder dieselben wenigstens bald verzehret hat. Aber wir sehen zweierlei an den noch gegenwärtigen Verfolgungen, welche uns dieselben betrübter (bedenklicher) machen. Einmal, daß der Teufel, nachdem er erkannt, daß seine gewaltthätigen und blutigen Verfolgungen nichts vermocht, nunmehr klüger geworden ist, und eine andere Art von Verfolgung angefangen hat, die einer Seits durch Drohworte, anderer Seits durch Verheißungenn und Vorstellungen der Welt Herrlichkeit, wenigstens die Kinder und Nachkömmlinge der, der wahren Religion Zugethanen, von der erkannten Wahrheit abzuziehen und wieder zu falscher Religion zu bringen sucht. Diese Art der Verfolgung, wie sie vor Altem von dem heidnische Kaiser Julian2), dem Abtrünnigen, gebraucht worden, ist der Kirche viel gefährlicher gewesen, als in früheren Zeiten die Grausamsten. Also hat sie auch der röm. Pabst bis daher gegen uns zu gebrauchen mehr beliebt, und die seinem Stuhle zugethanen Häupter öfters angefrischt. Dadurch wird mehr Schaden zugefügt, als wenn Feuer und Schwerdt zur Hand genommen worden wären. - Ferner haben die Verfolgungen allezeit dies gewirkt, daß die Christen sich vermehrt, und deswegen das Blut der Märtyrer für die kräftigste Düngung derselben gehalten worden ist, daß die Gläubigen, die vor der Welt unten zu liegen schienen, in Allem gleichwohl überwunden und einen Sieg nach dem andern davon getragen haben; durch die bisherigen Verfolgungen aber hat das römische Pabstthum unterschiedliche Reiche und Provinzen, die entweder ganz die Wahrheit der Lehre erkannt, oder in welchen doch viel guter Saame ausgestreut gewesen, wieder wirklich unter sich gebracht, so daß keine oder wenige Bekenner der evangelischen Wahrheit mehr in denselbigen sind, auch durch das allmähliige Absterben der noch Uebrigen zu seinem Zwecke zu gelangen siehet, und also der äußer Begriff (Umfang) der wahren Kirche immer enger eingespannt wird, seine Grenzen aber sich immer weiter ausbreiten. Daher haben wir über den unglücklichen Fortgang dieser Verfolgungen weit mehr zu klagen und uns zu betrüben, als über dieselben selbst. Denn die Macht, welche Gott dem Gegentheil 3) gegeben, ist uns ein gewisses Zeugniß, daß unsere Kirche sämmtlich nicht in dem Stande stehe, wie sie stehen sollte, und sich also sehr viel Goldes befinde, welches von außen glänzet, aber in dem Schmelzofen die Probe nicht hält.4)
Die andere und vornehmste Ursache des Jammers unsrer Kirche ist, daß es in derselben selbst fast an allen Orten mangelt. Wo ist ein Stand, den wir rühmen könnten also zu stehen, wie die christlichen Regeln fordern?
Gebrechen des weltlichen Standes.
sehen wir den weltlichen Stand an, und in demselben diejenigen, wleche nach göttlicher Verheißung Pfleger und Säugammen der Kirche sein sollten; ach, wie Wenige sind unter denselben, welche sich erinnern, daß ihnen Gott ihre Scepter und Regimentsstäbe dazu gegeben hat, um ihre Gewalt zu seines Reiches Beförderung zu gebrauchen! Leben nicht vielmehr die allermeisten, was große Herren anlangt, in denjenigen Sünden und allen Weltwollüüsten, welche das Hofleben meistens mit sich führt, und oft als unzertrennlich davon geachtet werden? - Andere Obrigkeiten suchen nur ihren eignen Nutzen; so daß man aus solchem Leben mit Seufzen abnehmen muß, daß Wenige unter denselben wissen, was das Christenthum sei, geschweige, daß sie solches selbst an sich haben und üben sollten? Wie viele sind deren, welche sich um das Geistlich durchaus nicht bekümmern, sondern mit jenem Gallion, Apstgesch. 18, 12-16. dafür halten, es gehe sie Nichts, als das Zeitliche an? Auch unter denen, die sich noch um die Kirche wohl zu verdienen gedenken; wie viel sind wiederum derjenigen, die Alles nur darauf beziehen, daß die hergebrachte Religion möge behalten und vor Eintrag der Falschen verwahrt werden, damit es gleichwohl noch lange nicht ausgemacht ist! Ja, von wie vielen ist zu sorgen, daß der Eifer, den sie für die Religion zeigen, mehr aus Absicht eines politischen Interesse, als aus Liebe der Wahrheit herrühre? Wie undankbar werden ihrer Viele der großen Güte Gottes, welche sie von dem harten Joche der päbstlichen Geistlichkeit befreiet, welches selbst gekrönte Häupter genugsam erfahren haben, und was sie seien ihnen gezeigt hat, daßß sie jetzt ihre Gewalt, die ihnen zur Beförderung, nicht aber Unterdrückung der Kirche gegeben ist, durch eine unverantwortliche Cäsaropapia (weltliche Papstherrschaft) mißbrauchen, und damit muthwillig hindern, wo etwa einige von Gott gerührte Diener der Kirche etwas Gutes zu stiften meinen5). Daher es zu bejammern ist, daß den Gemeinden besser gerathen sei, die zwar in andern Dingen etwas leiden müssen, aber doch in der Uebung dessen, was zur Erbauung dient, nicht eben gehindert werden; als denen, welche durch die Obrigkeit in ihrer Religion mehr Hinderniß, als Förderniß haben6).